Geist & Leben 2/2021. Verlag Echter
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– Das Bemühen, die Wahrheit zu erkennen und anzuerkennen, wo immer sie sich (wenn auch nur fragmentarisch) zeigt – denn „die Wahrheit ist ein Buch, das noch niemand von uns zu Ende gelesen hat“12. Die Hoffnung, dadurch gastlicher, lernfähiger und nuancierter zu werden.
– Das Rechnen mit unserer eigenen Verwundbarkeit und unserer machtvollen Fähigkeit, andere zu verwunden. Wir huldigen keinem Unschuldswahn.
– Die Annahme unserer Grenzen und der Grenzen anderer; die Mühe, ein Gespür für Endlichkeit und Ewigkeit zu entwickeln.
– Die Sehnsucht, der Verkündigung des Evangeliums treu zu bleiben und zugleich die Erfahrung der Vielfalt des Lebens zuzulassen – ohne Navigationssystem, ohne Autopilot, ohne viel mehr als den nächsten Schritt oder den nächsten Tritt in die Pedale zu wissen.
– Die Wachheit, ausgehend von unserem Gottes- und Menschenbild zwischen Gegensatz und Widerspruch zu unterscheiden und der Versuchung zu widerstehen, zu polarisieren, zu fragmentieren oder zu fusionieren.
Romano Guardini hat dazu schon vor 95 Jahren einen bleibend wichtigen, erstaunlich aktuellen Impuls gegeben.
Gegensätze aushalten und bejahen
Guardini hat vermutlich nie behauptet, das Leben sei eine gemütliche Fahrradtour. Auf jeden Fall ist es für ihn alles andere als ein friedliches, stilles Gewässer. Nach Romano Guardini existiert alles Lebendige nur im Spannungsgefüge von Gegensätzen oder Polaritäten (aber nicht unbedingt von Widersprüchen): „Dieses eigentümliche Verhältnis, in dem jeweils zwei Momente einander ausschließen und doch wieder verbunden sind, ja, einander geradezu voraussetzen, (…) nenne ich Gegensatz.“13 Oder noch genauer: „Das ist Gegensatz: dass zwei Momente, deren jedes unableitbar, unüberführbar, unvermischbar in sich steht, doch unablöslich miteinander verbunden sind; ja, gedacht nur werden können an und durch einander.“14 Dynamische Spannung, Spannungseinheit – eine Spiritualität, die sich lebendig und beweglich wissen möchte, steht notwendigerweise unter dem gleichen Gesetz. Dies auszuhalten und wirklich innerlich zu bejahen ist anstrengend und immer unbequem. Die Versuchung liegt nahe, Differenzen zu zähmen, Spannungen einzuhegen und neutralisieren zu wollen, d.h. einerseits die Linien dualistisch weiter auszuziehen, zu polarisieren, noch weiter zu fragmentieren, zu spalten, abzuspalten; die Komplexität der Welt und ihrer Fragen auf einen überschaubaren Komplex zu reduzieren (das Leben ist einfach, verständlich und schwarz-weiß; die Alternativen … alternativlos exklusiv), andererseits die Differenzen zuzukleistern, harmonisch zu glätten, zu vermischen und schließlich in einer Synthese des Gleich-Gültigen aufzulösen.
Beide Tendenzen – Spaltung oder Identität – sind in ihren Extremen tödlich für den Reichtum und die Fülle des Lebens. Eine Fahrrad-Spiritualität wird es sich nicht leisten, die bestehenden Polaritäten einfach elegant zu umschiffen. Sie kann aber auch nicht den goldenen, unengagierten „Mittelweg“ nehmen, der niemandem weh tut. Sie situiert sich vielmehr wie bei einer Gratwanderung genau auf dieser Spannungslinie dessen, was man einmal das ur-katholische Prinzip des et … et genannt hat: nicht entweder – oder, sondern sowohl … als auch; nicht nur … sondern auch: nicht nur Gnade, sondern auch Freiheit15, nicht nur Gott, sondern auch Mensch, nicht nur Einheit, sondern auch Vielfalt und Verschiedenheit, nicht nur heilige, sondern auch sündhafte Kirche (semper reformanda).
Das Geheimnis der Balance, des Gleichgewichts liegt – wie beim Fahrradfahren – in der Bewegung. Es wird wohl, so lange wir auf Erden unterwegs sind, immer nur eine unvollkommene Bewegung, eine pulsierende Ungleichheit bleiben, denn, so schreibt R. Guardini, „das Leben steht, je nach der verschiedenen Wesensbetonung im Einzelnen oder in der Gesamtheit, in dieser oder in jener Richtung. Immer aber gerät es dabei in die spezifische Krisis der betreffenden Sinnrichtung: Die dynamische des zerrüttenden (…) Relativismus, oder in die statische der erstarrenden Bewahrung und Härte.“ Und weiter: „Überwunden wird diese Krisis dadurch, dass innerhalb der betreffenden Lebensrichtung die sinngemäß entgegengesetzte aufgefunden, zugelassen, zur Entfaltung freigegeben wird: Das Strömen in der Dauer, das Bleibende im Wandel, (…) das Wirken in der Festigkeit.“16
Weil alles endlich Lebendige immer unausgeglichen ist, bleibt es notwendig verwiesen auf den Kontakt, auf die Beziehung mit anderem Lebendigen. Damit kommt dem Gegensatz eine wichtige kritische Bedeutung zu: In seiner Widerständigkeit bewahrt er vor der Anmaßung und der „naiven Selbstsicherheit, mit der sich eine enge Individualwelt als ‚die Welt‘ setzte.“17 Er hilft, über den eigenen Tellerrand zu schauen, sich andererseits auch anfragen zu lassen – und die eigene kleine, wenn auch wichtige Fahrradlampe nicht gleich für das Licht der Welt zu halten.
Wer aus einer solchen Spiritualität lebt, sitzt nicht einfach fest im Sattel, sondern setzt sich aus, bleibt selbst ausgespannt zwischen den Polaritäten; riskiert einerseits dynamische Vitalität und echte Fruchtbarkeit, andererseits das eigene Zerrissen-Werden. Genau diese Spannungseinheit, die pulsierendes Leben und Offenheit ermöglicht, macht diese Öffnung zu einer Leer-Stelle, zu einer absoluten Stelle, die vieles und viele sich anmaßen zu besetzen, die es aber für Gott, den einzig Absoluten, offenzuhalten gilt. Mehr noch: Die Spannungseinheit macht diese Öffnung zu einer Wunde, die der am Kreuz Ausgespannte am vollkommensten ausgetragen hat: Jesus. In seinem Kreuz sind Heil und Leben, nicht daneben.
Vielleicht ist diese Achse, die so sehr nach einer Bruchstelle aussieht, ist dieses Kreuz Jesu Christi das, was Romano Guardini mit „Mitte und Maß“ meint: „Die Mitte ist das Geheimnis des Lebens. Wo die Gegensätze zusammen sind; von wo sie ausgehen, wohin sie zurückkehren.“18 Das führt nicht zu einem geschlossenen System. Es führt zu einer neuen Haltung, einer „Haltung des steten Gehens, Hindurchgehens. Leben kann nur lebendig bleiben, wenn es maßvoll und bewegt bleibt; ein steter, auf bleibendes Gleichgewicht, auf dauernde Gegenwart verzichtender Vorübergang.“19
„Immer weiter!“ hätte Madeleine Delbrêl jetzt vielleicht dazu gesagt. Und wäre auf ihr Fahrrad gestiegen und davongebraust.
1 M. Delbrêl, Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße. Ein Lesebuch. Hrsg. v. A. Schleinzer. München u.a. 22015, 246ff.
2 Vgl. J. Sudbrack, Vom Geheimnis christlicher Spiritualität: Einheit und Vielfalt, in: GuL 39 (1966), 24–44.
3 Vgl. J. Daniélou, Vom Geheimnis der Geschichte. Stuttgart 1955, 322, zitiert in: J. Sudbrack, Vom Geheimnis christlicher Spiritualität, 27 [s. Anm. 2].
4 H.-J. Höhn, Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute. Freiburg i. Br. u.a. 2012, 163.
5 H. de Lubac, zit. nach: E. Bianchi, Wir sind nicht besser. Das Ordensleben in der Kirche und inmitten der Menschen. Sankt Ottilien 2011, 308.
6 R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten. Mainz 1925, 72f.
7 Vgl. A. Delp, Meditation zur Vigil von Weihnachten, 24.12. 1944, in: R. Bleistein (Hrsg.), Alfred Delp – Gesammelte Schriften. Band IV: Aus dem Gefängnis. Frankfurt/M. 1984, 195.
8 A. Delp, Predigt zu Christi Himmelfahrt 1943, in: R. Bleistein (Hrsg.), Alfred Delp – Gesammelte Schriften. Band III: Predigten und Ansprachen. Frankfurt/M. 1983, 214.
9 BKV 1/12 (1913), 165f.
10 Vgl. T. Halík, Glaube und sein Bruder Zweifel. Freiburg i. Br. u.a. 2017, 9.
11 Vgl. T. Halík, Theater für Engel. Das Leben als religiöses