"... damit eure Freude vollkommen wird!". Sebastian Kießig

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selbstverständlich nicht unberührt an der gesellschaftlichen Großgruppe der Katholiken vorüber.9 Der Milieukatholizismus, also jenes für den Kulturkampf und die erste Hälfte des 20. Jahrhundert so dichte Netzwerk an Vereinen und Verbänden, entdeckte die Jugend. Doch statt einer Mitgliedschaft in Kolpingvereinen für unverheiratete Gesellen oder in frommen Kongregationen versuchten vor allem jüngere Kapläne katholische Jugendliche für Jugendvereine wie den 1909 gegründeten Quickborn zu gewinnen. Ein erfolgreich rekrutierter Zeitzeuge erinnert sich: „Der Sonntagnachmittag war nicht nur durch Christenlehre und Andacht, sondern durch Versammlungen im Jugendheim – oder während der Sommermonate – durch Ausflüge und Fahrten bestimmt.“10 Hier verbinden sich Einflüsse der Lebensreform mit einer christozentrischen Frömmigkeit, die man sich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fahnen geschrieben hatte. Blieb der Quickborn allein schon zahlenmäßig ein kleiner elitärer Kreis, so konnte der Bund Neudeutschland (ND), gegründet 1919, mehr in die katholische Masse hineinwirken. Die Ideale der Reformpädagogik konnten auch hier Raum gewinnen, obwohl der ND ursprünglich vom Kölner Erzbischof von Hartmann (1851-1919) gegründet wurde, um nicht zu reformieren, sondern zu restaurieren: Die katholischen Jugendlichen sollten vor den Unruhen nach der Revolution 1918/19 geschützt werden. Zur rechten Unterweisung in allen religiös-sittlichen Fragen wurde ein Geistlicher in die Gruppe hineingewählt.11 Umrahmt von einem festgefügten liturgischen Kalender, waren Messe, Predigt, Beichte, Kommunion und auch Jugendarbeit existentielle Teil des eigenen Lebens. Wandern mit dem ND gehörte dazu ebenso wie die alljährliche Marienandacht im Mai oder der fleischlose Freitag.12

      2. „Die Kirche erwacht in den Seelen“ – Liturgie und Gemeinschaftserfahrung

      Gleichzeitig setzte im katholischen Raum eine Symbiose zwischen Jugendbewegung einer- und Liturgischer Bewegung andererseits ein. Als paradigmatisch kann vielleicht die Äußerung des wenig später kurzfristig exkommunizierten Priesters Joseph Wittig (1879-1949)13 gelten, der im „Hochland“ zu Beginn der 1920er-Jahre konstatierte: „Ich habe mich aber nicht weihen lassen, für soziale, sondern für priesterliche Tätigkeit.“14 Damit ging Wittig dezidiert auf Distanz zu den Aktivitäten des politischen bzw. Sozialkatholizismus mit seinem Netzwerk an Vereinen und Verbänden für alle möglichen Lebensbereiche, die liturgiebewegten Anhängern als subjektivistische und liberalistische Irrläufer authentischer Katholizität galten. Die Euphorie einer jüngeren, intellektuellen Generation für die Liturgie als eine ersehnte, überzeitlich und unabhängig vom jeweiligen Ich geltende Form geistlichen Lebens brachte demgegenüber vor allem Romano Guardini (1885-1968) auf den Punkt, indem er 1922 festhielt: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. […]. Es gibt religiöse Gemeinschaft. Und ist keine Ansammlung in sich beschlossener Einzelwesen, sondern die Einzelnen übergreifende Wirklichkeit: Kirche. Sie erfaßt das Volk; sie erfaßt die Menschheit.“15 Auf der unterfränkischen Burg Rothenfels und anderswo wurden neuen Formen der Liturgie wie die participatio actuosa (dt. „tätige Teilnahme“) zelebriert16 und über die gemeinsame gottesdienstliche Teilnahme an heiligen Zeichen und Handlungen Kirche als Gemeinschaft des Corpus Christi Mysticum erfahren. Jugend- und Liturgiebewegung eint also trotz mancherlei Unterschiede die gemeinschaftliche Erneuerung des kirchlichen Lebens, konkret der einzelnen Pfarrgemeinde. Durch ein solches, zunehmend territoriales Verständnis kann man auch von einer Verkirchlichung der Jugendarbeit sprechen.17 Dabei ließ Kritik einer älteren Generation freilich nicht lange auf sich warten. Während der spätere Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946) den Liturgiebewegten anfänglich eine Tendenz zur Selbsterlösung unterstellte18, erkannte der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber (1872-1948) in ihrem Treiben eine schleichende Protestantisierung. Gröber musste seine Proteste später quasi auf Geheiß von oben einstellen, als Pius XII. mit seiner Enzyklika Mystici Corporis (1943) dem liturgiebewegten Kirchenverständnis des geheimnisvollen Leibes Christi entgegenkam. Als höchst aufschlussreich für die Fragestellungen dieses Sammelbandes erweist sich insbesondere die Tatsache, dass in den Hochburgen der Liturgischen Bewegung – den urbanen Gemeinden des Ruhrgebiets – gleichzeitig mit deren ‚Wende nach innen‘ die Zahl des Priesternachwuchses deutlich zunahm.19 Ein durch die Liturgiebewegung forciertes Angebot der spirituellen Verdichtung einer- und persönliche Sinnfindung andererseits legten sich für viele damalige Priesteramtskandidaten in besonderer Weise übereinander. Mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums (1962-65) dann erfuhr die Liturgiebewegung eine nachträgliche Stärkung ihres Anliegens, auch wenn sie nach der großen Zäsur 1945, soviel sei bereits vorweggenommen, nicht mehr reüssieren konnte.

      3. Dienst an der nationalsozialistischen Kriegsfront – die Suche nach dem Heiligen Gral?

      Die Frage nach dem Verhalten der Jugendbewegung zum aufkommenden Nationalsozialismus ist äußerst komplex. Man muss bei der heutigen Lektüre der Quellen sehr genau unterscheiden zwischen sprachlichen Anleihen bei einem vaterländischen Nationalismus auf der einen Seite und antisemitischen, das Hitler-Regime stützenden Elemente auf der anderen Seite, die sich in Visionen eines katholischen Germaniens ausdrücken konnten. Der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg hat mehrfach auf den posthum, aus Briefen und Tagebuchblättern publizierten „Weg“ des Jungsoldaten Johannes Niermann aufmerksam gemacht20, dessen Vita vielleicht als exemplarisch für eine ganze Generation von katholischen Jugendlichen anzusehen ist. Warum? Der Jugendbewegte bejahte, nach einer kurzen Internierungshaft durch die Nationalsozialisten, seinen Militärdienst, ja mehr noch: Niermann, der katholischer Priester werden wollte, aber nur ein Jahr nach seiner Einberufung im französischen Doncourt-sur-Meuse im Jahr 1940 verstarb, sah seinen Dienst an der Front in Kontinuität zu den Wanderfahrten, die er einst in der Jugendbewegung unternahm. In Identifikation mit der Suche nach dem Heiligen Gral, bekannt aus dem mittelalterlichen Parzival-Mythos, verstand auch Niermann seinen Kriegsdienst als Einsatz eines miles christiani für das Gute und Wahre; als Chance, den Glauben einzuüben und vorzuleben. Die Überzeugungskraft einer solchen Kriegserfahrung sollte freilich rasch nachlassen.

      Die systematische Missachtung des Reichskonkordates vom Juli 1933 durch die Nationalsozialisten höhlte in der Folge jedwede Jugendarbeit, Katechese oder auch den Religionsunterricht aus. Die katholische Jugend war durch die Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens auf ein so genanntes ‚Sakristeichristentum‘ zurückgeworfen – der Fokus lag nur bei wenigen katholischen Jugendgruppen auf Widerstandsarbeit gegenüber dem Regime, eher besann man sich stärker auf die liturgische Zelebration in der Pfarrei, die von Zeitgenossen als ‚Oase‘ beschrieben wurde. Insbesondere die Kriegsjahre verschärften diesen Prozess noch. Unter systemisch ähnlichen, wenn auch freilich politisch gänzlich anderen Vorzeichen ließen sich die Lebensbedingungen katholischer Jugendliche in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) beschreiben.21 Diesen Diktaturerfahrungen und katholischen Reaktionsweisen darauf sei an dieser Stelle zugunsten von Demokratieerfahrungen in Westdeutschland nicht weiter nachgegangen.

      4. ‚Stunde Null‘ und Rechristianisierung

      Aus den noch rauchenden Trümmern des Zweiten Weltkriegs stieg die katholische Kirche als Siegerin mit einer zunächst ungebrochenen Autorität hervor. Dieses Ansehen galt es zu nutzen. Vor allem die Bischöfe strebten in der unmittelbaren Nachkriegszeit enorme Rechristianisierungsmaßnahmen an, wurde doch der Nationalsozialismus von ihnen nach Mustern des Alten Testaments als Glaubensabfall von Gott interpretiert.22 Zu den Erneuerungsmaßnahmen gehörte nicht zuletzt ein Einheitsbund der katholischen Jugend, wenn auch für die katholische Jugendarbeit nicht von einer ‚Stunde Null‘23 im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Denn die Verbände knüpfen zunächst am Alten an und wollten – auf bischöflichen Wunsch – die bündische Jugendarbeit wiederbeleben. Die Erlebnis- und Erfahrungswelt junger Menschen wollte man zunächst mit dem Ausbau altbewährter Strukturen einfangen. Prominente Stimmen des ND wie der spätere Münsteraner Professor für Kirchengeschichte Erwin Iserloh (1915-1996) lehnten gar eine Konzentration auf die Jugendarbeit in der Pfarrei dezidiert ab, da dort gegenüber der bündischen Eigenständigkeit die Organisation wieder auf ein Führerprinzip durch Vorsitzende hinauslaufe.24 Doch ob

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