Abenteuer Musik. Clemens Kühn
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Rhythmus ist jene Eigenschaft von Musik, die physisch unmittelbar packt. Filmmusik unterstützt damit die Handlung und die Wirkung der Bilder, so die Musik von John Powell zu den Action-Filmen um Jason Bourne oder John Barrys Musik zu James-Bond-Filmen. Umso ungewöhnlicher ist dieser Einfall: Wer Wolfgang Petersens Film Troja (2004) gesehen hat, hat vielleicht einen Kunstgriff des Komponisten James Horner bemerkt: Dem entscheidenden Kampf zwischen Hektor und Achill unterlegt Horner keine Musik, sondern bloße Rhythmen. Der – dadurch im Zuschauer aufgeputschte – Kampf dauert lang: zweieinhalb Filmminuten. Die Wirkung ist genau kalkuliert: Schlagartig in dem Moment, in dem Hektor getroffen wird, setzt die Gesangsstimme ein.
Rhythmus ist eine Urkraft von Musik. »Am Anfang war der Rhythmus«, behauptete der Dirigent Hans von Bülow (1830–1894), in gewagter Abwandlung des theologischen Satzes aus dem Johannes-Evangelium: »Im Anfang war das Wort.« Und Eduard Hanslick definierte in seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1854) das »Wesen« von Musik »im Großen« wie »im Kleinen« als »Rhythmus«. Beide Äußerungen lassen sich infrage stellen: »Am Anfang« von Musik kann auch der menschliche Gesang gestanden haben, und nicht jede Musik ist gekennzeichnet durch einen »Rhythmus im Großen«, den Hanslick als »die Übereinstimmung eines symmetrischen Baus« versteht. Aber die Äußerungen fassen zugespitzt den elementaren Rang von »Rhythmus«.
Vom Rhythmus sind der Takt und das Metrum zu unterscheiden. An den ersten 16 Takten von Johann Strauß’ berühmtem Walzer An der schönen blauen Donau – zu dem kein Geringerer als Johannes Brahms schrieb: »leider nicht von mir« – seien alle dazu gehörigen Sachverhalte demonstriert:
Ein Takt, angezeigt durch Taktstriche, ist eine Maßeinheit für Notenwerte. Ihre Menge hängt von der Taktart ab. Ein »Dreivierteltakt«, Merkmal eines Walzers, enthält insgesamt die Dauer von drei Vierteln. Der Takt gibt die abstrakte Einheit vor, der Rhythmus bildet darin konkrete Gestalten aus. Die Taktzählung erfolgt durch Zahlen über den Takten. Jeder Takt enthält innere Zählzeiten, hier drei Viertel als Zählzeit 1, 2, 3. Und grundiert wird ein Takt durch das Metrum, im Notenbeispiel *: einen spürbaren, unterschiedlich schnellen Puls im Hintergrund der Musik; das erwähnte Zucken des Körpers bei flotten Rhythmen gibt meist, ohne dass es einem bewusst würde, das Metrum wieder.
Ein Takt hat abgestufte Betonungen: In einem Dreivierteltakt ist die Zählzeit 1 betont, die 2 und 3 sind unbetont. Mit einer ziemlich sicheren Methode kann man deshalb eine Taktart erkennen: Im Tempo der Musik zählt man zum Beispiel innerlich 1-2-3 und betont dabei die 1; geht die Zählung auf, ist es ein Dreivierteltakt; entsprechend macht man es beim Viervierteltakt.
Das nachhaltig Beschwingte im Walzer von Strauß wird durch den beibehaltenen Rhythmus besorgt, der zugleich die kleinen melodischen Abwandlungen verbindet: Der Rhythmus der Takte 1 bis 4 wird ständig wiederholt und bleibt noch in den nicht mehr abgebildeten Takten 17 bis 24 unverändert! Wenn ich Ihnen aber den folgenden Rhythmus aus lauter Sechzehnteln vorlege
und behaupte, nur daraus könne man zwei verschiedene, längere Stücke machen, werden Sie das entweder für einfallslos oder für verrückt halten. Tatsächlich stammen die Sechzehntel von – Johann Sebastian Bach, und von den »zwei längeren Stücken« habe ich gerade mal den Rhythmus der ersten beiden Takte genommen. Das eine Stück bestreitet damit geschlagene 34 Takte, das andere 33 Takte. Die Stücke eröffnen Das Wohltemperierte Klavier Bachs, eine zweibändige Sammlung von Präludien [Vorspielen] und Fugen [zur Fuge siehe Station 17] in allen Dur- und Molltonarten [eine Tonart gibt den Klangraum einer Musik an, Dur und Moll ihr »Tongeschlecht«, das den Charakter mitprägt]. Die beiden ersten Präludien, in C-Dur und in c-Moll, beruhen durchgehend auf Sechzehnteln, die fließend Akkorde entfalten bzw. mit benachbarten Noten auszieren:
Bachs Musik ist generell motorisch. Die Motorik gibt ihr einen manchmal unerbittlich wirkenden Sog. Typisch für Stücke Bachs ist, dass sie nach einer kleinen Pause beginnen, wie die erste Fuge des Wohltemperierten Klaviers, und durch diese wie einatmende Pause (
Bachs Motorik ist niemals starr mechanisch; das spöttische Bild von der »Nähmaschine«, das gelegentlich für das c-Moll-Präludium benutzt wurde, geht an der Musik vorbei. Der französische Pianist Jaques Loussier (* 1934) war es, mit dem von ihm gegründeten »Play Bach Trio« aus Klavier, Schlagzeug, Kontrabass, der den rhythmischen Nerv der Bach’schen Musik traf, eigentlich müsste man sagen: freilegte. In den 1960er-Jahren veröffentlichte das Trio fünf Schallplatten Play Bach; es entdeckte in Bach gleichsam den Jazzkomponisten. Ich weiß noch, wie wir damals als junge Menschen gebannt waren vom Spiel des Trios. Es tat Bach niemals Gewalt an. Der Notentext wurde gern einfach übernommen, durch das Klavier hörbar und fühlbar gemacht in seinem rhythmischen Leben, durch den Kontrabass in der Art seines Bassfundamentes und durch das Schlagzeug in seiner inneren Erregtheit, und dann wurde der Notentext in eine – dezente – Jazz-Fassung überführt. Bachs Musik hat Swing. Dieses Erlebnis war seinerzeit atemberaubend und ist immer noch aktuell.
Ein radikales Gegenteil von Bachs unbeirrt durchgehenden Sechzehnteln ist dieser vertrackte rhythmische Verlauf:
Die Verwirrung ist komplett: Dreisechzehntel, Zweisechzehntel, Dreisechzehntel, Zweiachtel …: Ständig wechseln die Taktart und die Notenwerte Sechzehntel und Achtel; bis auf den letzten Takt beginnt keiner der Takte betont auf seinem Anfang, sondern nach einer Sechzehntelpause; eine Ordnung wird angedeutet (die Takte 3 bis 5 und 7 bis 9, im Beispiel mit Punkten versehen, sind rhythmisch gleich), aber wieder aufgehoben. Den gewaltigen, zuvor noch nie gewagten Effekt sieht man dem Beispiel nicht an: Das ganze Orchester spielt zusammen, zu heftigen Schlägen gebündelt, als ob es ein einziges riesenhaftes Instrument wäre.
Zum Vergleich sei eine andere rhythmische Anlage dagegengehalten. Probieren Sie dieses Beispiel bitte einmal selbst aus:
Mit der linken Hand (l) klopfen Sie fortwährend, ohne abzusetzen, gleichbleibende Pulse (