Dein Reich komme. Jürgen Kroth

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Dein Reich komme - Jürgen Kroth Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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unhintergehbare Notwendigkeit von Praxis zwar zu betonen, letztlich aber in der Theorie zu verharren und damit der der 11. Feuerbachthese nicht zu genügen. Es ist daher wohl kein Zufall, dass Adorno die Negative Dialektik mit einer Kritik der elften These über Feuerbach beginnt.29 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Adornos Kritik an der Feuerbachthese keineswegs die abstrakte Bestreitung ihres Wahrheitsanspruchs ist. Vielmehr spiegelt sich in der Kritik eben die veränderte Situation wider, aus der kein unmittelbar praktischer Weg herausführt, die vielmehr eine genaue Reflexion erfordert. Dass dies durchaus nicht unmarxistisch ist, ließe sich am Beispiel der frühen Forderung Marx’ einer rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden zeigen. Adornos Überlegungen zu einer Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis stehen nicht zuletzt dadurch in einer Traditionslinie mit Marx, dass sie diesem widersprechen, insofern Marx’ Anspruch einer „,praktischkritischen‘ Tätigkeit“30, die er selbst als revolutionäre auffasst, ausgerichtet ist auf eine begrifflich blinde Praxis der Philosophie, die an der Erfassung der Wirklichkeit nur bedingt Interesse hat. Die Enthüllung der Bewegungsgesetze des Kapitals ist daher gleichfalls Ausdruck praktisch-kritischer Tätigkeit. Verändern sich aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, verändert sich auch die praktisch-kritische Tätigkeit. Adornos Explikation des Theorie-Praxis-Verhältnisses verdankt sich nicht zuletzt den veränderten Bedingungen. Vergisst man, dass die realen Möglichkeiten radikaler gesellschaftlicher Veränderungen dicht zugehängt sind, unterläuft man das Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis unkritisch. Gegen jeden Aktionismus beharrt Adorno daher darauf, dass „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis“31, misslingen muss.

      Adornos Überlegungen zu Theorie und Praxis tragen, wie all seine Reflexionen, sowohl dem gegenwärtigen Stand von Theorie und Praxis Rechnung wie auch der theoretischen Antizipation einer ungeschmälerten Praxis, solange ihre reale Möglichkeit verstellt ist. Die Situation einer Verstellung der Praxis, die aufgeschoben und nicht warten kann, berührt freilich auch die Theorie.32

      „Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung“, so Adorno in seinem Vortrag Wozu noch Philosophie, „nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen. Nach dem versäumten Augenblick hätte er ohne Beschwichtigung zu erkennen, warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann. Solche Erkenntnis wäre ja wohl Philosophie. Sie abzuschaffen um einer Praxis willen, die zu dieser historischen Stunde unweigerlich eben den Zustand verewigte, dessen Kritik Sache der Philosophie ist, wäre anachronistisch. Praxis, welche die Herstellung einer vernünftigen und mündigen Menschheit bezweckt, verharrt im Bann des Unheils ohne eine das Ganze in seiner Unwahrheit denkende Theorie.“33

      Die Bildung einer vernünftigen und mündigen Menschheit ist nicht unterhalb des Niveaus des fortgeschrittensten Standes der Erkenntnis möglich. Diese Einsicht impliziert für Adorno eine kritischweiterzuführende Rezeption Marxscher Theoreme, nicht zuletzt desjenigen der Aufhebung der Philosophie durch ihre Verwirklichung, das zwar, nachdem es einmal versäumt war, nur als Idee, dennoch aber notwendig ist, um – als theoretisches Korrektiv – die Praxis vor der blinden Affirmation des Bestehenden im Gewande der Kritik zu retten. Diese Aufhebung ist jedoch noch einmal an die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückgebunden: an die Entwicklung der Produktivkräfte als reale ökonomische Bedingung der Menschen, sich aus den Fesseln entfremdeter Arbeit zu befreien.34

      Dabei scheut Adorno sich nicht, seine Versöhnungshoffnung, die auch das Verhältnis von Theorie und Praxis betrifft, metaphysischtheologisch zu verorten, da sie nur dann radikal wird, wenn sie den Schuldzusammenhang35 bricht, der auf der Menschheit lastet, wenn sie „das Gleich um Gleich der Gewalt“, den „Rückfall in die Barbarei“36, der in Auschwitz und Hiroshima stattgefunden hat, überwindet. Der Verzicht auf das Gleich um Gleich der Gewalt ist die Realantizipation der Versöhnung, nicht schon diese selbst. Versöhnung bleibt, gegen alle praktischen Versuche, bestehendes Unrecht zu wenden, gebunden an die Möglichkeit, vergangenes Leiden zu widerrufen37, ohne dabei die realen Bedürfnisse der Menschen zu übergehen. Darin konvergiert Adornos materialistische Dialektik mit der Theologie, dass ihre Sehnsucht die Auferstehung des Fleisches wäre; „dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd. Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung. Erst dem gestillten leibhaften Drang versöhnte sich der Geist und würde, was er so lange nur verheißt, wie er im Bann der materiellen Bedingungen die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verweigert.“38

      Wichtig ist, dass mit dem Gedanken an Versöhnung und der praktischen Antizipation dieser Versöhnung ein Maßstab angegeben ist, von dem aus bestehende Praxis kritisierbar ist. Adornos Maßstab der Praxis orientiert sich an einem Maximum: „einem Handeln, worin selbstbestimmte Vernunft, vernünftige Selbstbestimmung sich äußert. Das erst wäre wahrhafte, d.h. dem menschlichen Vernunftvermögen angemessene, menschenwürdige Praxis. Von ihr ist die gesellschaftliche Wirklichkeit weit entfernt. Daher heißt Praxis auch die Herstellung von Bedingungen, unter denen besagtes Maximum von Praxis möglich wäre.“39

      Noch die kritischste Attitüde, sofern sie nicht die Tendenzen einer total verwalteten Welt begrifflich erfasst, erliegt dieser, indem alle Spontaneität abgewürgt und in Pseudo-Aktivität kanalisiert wird.40 Eine kritische Sichtung des Praxisanspruchs in der bestehenden Gesellschaft ist daher auf die Analytik der gesellschaftlichen Grundpfeiler angewiesen.

      Konsequent kritisiert Adorno die bestehende Praxis als falsche, die letztlich auch nicht Praxis ist. „Falsche Praxis ist keine.“41 Praxis im emphatischen Sinne wäre sie erst in der gegenseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt; die herrschende sieht von dieser ab, ohne darüber sich Rechenschaft abzulegen, dass sie immer schon ein bestimmtes Verhältnis von Subjekt und Objekt voraussetzt, nämlich die Beherrschung des Objekts durch das Subjekt. Praxis hätte auch für das Subjekt, insofern selbst Objekt, seiner Bedürftigkeit zu folgen, die, da sie durch das gesellschaftliche Gesamtsystem vermittelt ist, selbst noch theoretisch zu bestimmen wäre. „Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen“42. Von der falschen Praxis ist daher auch die Theorie betroffen43, doch der Aufweis der Falschheit bestehender Praxis ist in dem Verfahren immanenter Kritik theoretisch möglich, ohne darin eine Ontologisierung der Falschheit von Praxis vorzunehmen. „Wir können ja nicht sagen“, bemerkt Adorno in einer Diskussion mit Horkheimer, „das Ganze ist das Wahre, wir können nur sagen, das Ganze, das es nicht gibt, ist das Wahre. Münchhausensituation.“44 Theorie bestimmt Praxis als defizient, indem sie darauf hinweist, dass sie im strengen Sinne noch aussteht. Solange dies der Fall ist, ist Aufgabe der Theorie aufzuzeigen, was emphatische Praxis systematisch verhindert.

      Ist Theorie Statthalterin von Praxis in der Situation ihrer Verstelltheit, so ist sie doch gleichwohl immer auf Praxis verwiesen, kann ohne diese gar nicht gedacht werden. Die Paradoxie der Theorie ist daher, dass sie ohne ihren Reflexionsbezugspunkt selbstwidersprüchlich wird, selbst dann, wenn emphatische Praxis fehlt.

      Welche Praxis aber meint die Theologie, wenn sie vom Primat der Praxis spricht? Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass die klassische Position, die Theologie beziehe sich auf kirchliche Praxis, nicht zureichend ist. Sie ist, das wurde eingangs schon deutlich, Theorie einer umfassenden Praxis, die auf kirchliches Handeln bezogen ist, auf den Selbstvollzug der Kirche, auf das Handeln von Christinnen und Christen in kirchlichen wie nichtkirchlichen Kontexten, auf die dezidiert religiöse Praxis, aber auch auf das Handeln von Menschen, die auf unthematische und unreflexe Weise ‚christlich‘ agieren, auf die Praxis von Menschen in komplexen gesellschaftlichen Konstellationen, mithin also auch auf gesellschaftlich relevantes Handeln unabhängig von der Frage, ob es die bestehende Gesellschaft affirmiert oder kritisiert, auf das Handeln im Horizont der eigenen Endlichkeit wie der der Endlichkeit des/der Anderen, das gerade dadurch aber diesen Horizont sprengen kann, indem es Verhältnisse anvisiert, in denen die Endlichkeit in eine größere Gerechtigkeit hinein aufgehoben wird. Es ist schließlich

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