Dein Reich komme. Jürgen Kroth
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Schon in der Enzyklika „Mater et magistra“ von 1961 benannte Johannes XXIII. drei wichtige Stichworte, die zuvor schon in der Christlichen Arbeiterjugend unter der Prägung des späteren Kardinals Joseph Cardijn eine wichtige Rolle spielten: Die methodische Arbeitsweise kirchlichen Handelns vollziehe sich in einem Dreischritt: „Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich in den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.“ (Mater et magistra, 236) Vertieft wird dies in Gaudium et spes, wenn dort die Deutung der Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche in der Welt von heute angegeben wird (vgl. GS 4). Die dort vorgenommene Spezifizierung ist dabei besonders wichtig, denn es wird deutlich formuliert, dass dies zu jeder Zeit geschehen müsse, womit implizit ein in der Theologie immer wieder aufzufindendes Verständnis von der Zeitlosigkeit der Wahrheit zurückgewiesen wird. Nicht Wahrheit ist in der Geschichte, so ließe sich mit Adorno betonen, sondern Geschichte in der Wahrheit.46 Auch der christliche Wahrheitsanspruch hat sich in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise zu aktualisieren. „Was ‚immer‘ wahr ist“, so formuliert Bonhoeffer, „ist gerade ‚heute‘ nicht wahr“47.
Die Bezüge auf Mater et magistra und Gaudium et spes und die damit inhärierte Zeitdiagnostik im Lichte des Evangeliums ist für die Methodik der Theologie wie auch der Kirche höchst relevant, denn sie sind in sich dynamisch, weil sowohl die Wahrnehmungen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich sind, aber auch die Urteilsstrukturen immer wieder neu zu explizieren sind, ohne dass dabei die grundlegenden Parameter christlicher Urteilskraft gleichsam dem Zeitgeist untergeordnet würden. Es kommt entscheidend darauf an, das kirchliche Handeln immer wieder als adäquate Reaktion auf die jeweilige Situation entfaltet werden muss.
Auf jeden Fall ist die theologische Reflexion immer auf Praxis angewiesen. Das alte, wenn auch immer noch anzutreffende Verständnis der Verhältnisbestimmung von Theologie und Praxis ist damit verabschiedet. Wahrheit ist nämlich „nicht im vorhinein durch Theorie erfunden und im nachhinein durch die Praxis“48 zu bestätigen. Theologie steht unter dem Primat der Praxis. Das anzuerkennen fällt der Theologie nicht leicht, wohl am leichtesten noch der Praktischen Theologie. So wurde insbesondere in der Praktischen Theologie der Versuch unternommen, Wirklichkeitsermittlungen in den Diskurs der Theologie einzuführen.
Für den praktisch-theologischen Diskurs im Allgemeinen, für den pastoraltheologischen im Speziellen hat sich das Regelkreismodell von Rolf Zerfaß49 als besonders geeignet erwiesen, die Theologie auf die Wirlichkeit hin zu verpflichten. Es stellt sich folgendermaßen dar:
Bei jedem praktisch-theologischen Handeln ist die Situation der Beteiligten (beteiligte Subjekte, SeelsorgerInnen, LehrerInnen etc.) Ausgangspunkt der Planung (1). Diese Situation wird unter Zuordnung zu einer für diese Situation relevanten praktisch-theologischen Disziplin analysiert (4, 6) und in Interdependenz (2, 3, 5) elementar theologisch reflektiert. Mit Hilfe dieser Schnittmenge (7, 8) ist eine praktisch-theologische Theorie für eine ebensolche Problemstellung (9) zu erstellen, die ein Handlungsmodell (10) für die Praxis 1 innerhalb der gewählten Problemstellung anbietet. Aufgrund der Anwendung dieses Modells wird die Praxis 1 zu Praxis 2 (11) verändert, die dann wiederum als Ausgangspunkt einer weiteren Regelkreisverwendung zur Praxis 1 wird.
Ein stärker noch empirisch ansetzender Versuch wie der von Johannes A. van der Ven, der eine explizite Vermittlung von Theologie und Empirie vorsieht, treibt diesen Ansatz noch weiter, indem er fordert, die Theologie müsse insgesamt empirisch werden in Analogie zur Rezeption historischer und philosophischer Methoden in Exegese und systematischer Theologie. Unter dem Stichwort der Intradisziplinarität entfaltet er sein Programm, das er selbst folgendermaßen kennzeichnet:
„Das Modell der Intradisziplinarität beinhaltet, daß die Theologie selbst empirisch werden muß, das heißt, daß sie ihr traditionelles Instrumentarium, bestehend aus literarhistorischen und systematischen Methoden und Techniken, in die Richtung einer empirischen Methodologie erweitern muß. Man kann diese Erweiterung mit dem Begriff Intradisziplinarität umschreiben, da er sich im allgemein-wissenschaftstheoretischen Sinn auf die Übernahme von Konzepten, Methoden und Techniken der einen Wissenschaft durch eine andere und auf die integrierende Aufnahme dieser Elemente in diese andere Wissenschaft bezieht. Solche intradisziplinären Prozesse kommen in allen Wissenschaftsgebieten vor: in den Naturwissenschaften, den Sprach-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, den philosophischen und theologischen Wissenschaften. Intradisziplinarität fördert die Innovation in diesen Wissenschaften. (…) Gerade die Geschichte der Theologie ist ein Beispiel par excellence von intradisziplinärer Übernahme, Aufnahme und Integration. Um einige willkürliche, aber markante Beispiele zu nennen: Die Moraltheologie von Thomas ist ohne die aristotelische Ethik undenkbar, die Tübinger Schule der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ohne den philosophischen Idealismus unmöglich, die theologische Systematik Tillichs ohne die Tiefenpsychologie und die Existenzphilosophie unbegreifbar, die Fundamentaltheologie von Rahner ohne Hegel nicht nachvollziehbar und die politische Theologie von Metz ohne die Frankfurter Schule nicht verstehbar.“50
Urs Eigenmann entwickelt ein Konzept, das inhaltlich der hier vorgelegten Arbeit sehr vertraut ist, weil es ähnliche theoretische Bezugspunkte und von einer verwandten theologischen Option geprägt ist und das in der schematischen Darstellung folgendermaßen aussieht51 :
Eine weitere konzeptionell verwandte Arbeitsweise findet sich in dem Grundlagenwerk von Clodovis Boff zu Theologie und Praxis.52 Boff unterscheidet darin drei Vermittlungsebenen: die sozialanalytische, die hermeneutische und die praktische Vermittlung. In der sozialanalytischen Vermittlung stellt sich die zentrale Frage nach den Ursachen, Mechanismen und dem Verständnis des gesellschaftlichen Phänomens der Unterdrückung. Im zweiten Schritt einer hermeneutischen Vermittlung stellt sich die Frage nach Gehalten der jüdischchristlichen Tradition angesichts solcher Unterdrückungserfahrungen und vor allem auch nach deren Überwindungsstrategien. Insbesondere biblische Perspektiven sind bei der Beurteilung der sozialanalytisch ermittelten Situation wichtig, ebenso aber auch sozialethische Kategorien. Im dritten Vermittlungsschritt zeigt sich die besondere Relevanz der Praxis, denn sie ist Ausgangspunkt wie auch Zielpunkt dieses Verfahrens. Dabei ist Praxis in dem Ansatz von Clodovis Boff keine neutrale Beschreibung von Handlungsansätzen, sondern präformiert durch inhaltliche Perspektiven von Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe.
Der jüngste Vorschlag einer Variation des Schemas ‚sehen – urteilen – handeln‘ stammt von Herbert Haslinger.53 Es geht ihm dabei dezidiert um einen Reflexionsprozess der Pastoraltheologie und nicht um einen pastoraltheologisch fundierten methodischen Vorschlag für pastorales Handeln in welcher Form auch immer. Das unterscheidet seinen Ansatz grundlegend von den bisherigen und auch von dem im Anschluss noch darzulegenden hier präferierten.
Grundlegend sei, dass jede Reflexion der Pastoraltheologie mit irgendeiner lebensweltlich geprägten Form von Praxis beginne. Eine Theologie „vom Nullpunkt an“54 sei daher als Fiktion zu verabschieden. Diese Praxis aus der Lebenswelt sei allerdings noch eine vorreflexive Erlebnisform, die von den Menschen „mehr oder weniger diffus, routiniert, zumindest unproblematisiert“55 erfahren würden.