Dein Reich komme. Jürgen Kroth
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Im Anschluss an die Wahrnehmung der Lebenswelt wählt Haslinger im nächsten Schritt ganz bewusst eine andere Formulierung als im klassischen Dreischritt, weil ihm der Anspruch des Urteilens zu sehr den „anmaßenden Habitus einer Urteilsinstanz“57 vertrete, den die Theologie zu verabschieden habe. Auch hat er damit einen deutlichen in die zukünftige Praxis weisenden Akzent vor Augen. „Die hier angesiedelten Reflexionsgänge sollen dem neu zu konzipierenden Handeln ein Fundament in der Form verleihen, dass man sich der dafür geltenden Prinzipien, Werte, Normen, Rahmenbedingungen und Ziele vergewissert.“58
Die daran anschließende Orientierung möchte wiederum in Differenz zum klassischen Vorschlag eine verhaltenere Vorgehensweise in den Mittelpunkt stellen, indem sie aufgrund der vorigen Schritte Perspektiven angeben möchte, die zur Orientierung dienen können, aber keinesfalls unmittelbar praktische Dimensionen haben sollen.
Im letzten Schritt werden dann neue Situationen anvisiert. Nicht allerdings von der Pastoraltheologie, sondern von den Subjekten, die mit Hilfe der pastoraltheologischen Reflexion selbst neue Lebenswirklichkeiten schaffen möchten. „Der Reflexionsprozess findet demnach seinen Zielpunkt in einer Praxis der Menschen, die wieder in einer Lebenswirklichkeit eingebettet ist und dort ‚auch wenn in der neuen Situation weiterhin theologische und humanwissenschaftliche Inhalte als Deutungskategorien im Hintergrund virulent sind, ohne ständigen Reflexionsbedarf routiniert, unproblematisiert und somit alltagsweltlich stabilisierend stattfinden kann.“59
Wenn in der vorliegenden Arbeit dennoch einem anderen Ansatz gefolgt wird, dann nicht aus einer etwaigen Geringschätzung der empirischen Methode, erst recht nicht aufgrund einer angenommenen Suprematie der Theorie über die Wirklichkeit, sondern aufgrund der Verbundenheit mit dem in Mater et magistra angeregten methodischen Dreischritt, der allerdings noch zu verfeinern war. Denn das Schema „Sehen – Urteilen – Handeln“ ist auf jeden einzelnen Schritt selbst noch einmal anzuwenden und zugleich um eine weitere Aktivität anzureichern: Es reicht nämlich offenkundig nicht aus, die richtigen Wahrnehmungen und Urteilsstrukturen zu besitzen. Richtige Erkenntnis führt eben nicht zwangsläufig zu adäquater Praxis. Es bedarf also eines weiteren Schrittes, der hier mit ‚wollen‘ bezeichnet wird.60 Menschen sind offenkundig nur dann mit ihrem Handeln identisch, wenn sie auch wirklich wollen, was sie tun sollen. Wie aber gelingt diese Integration? Am ehesten durch die emotionale Verankerung einer Herausforderung im Subjekt. Schon Ernst Bloch ahnte, das hier eine tiefe Schwierigkeit besteht. Obgleich er von der Hoffnung als einem Prinzip ausging, schien es dennoch nötig, das Hoffen zu lernen. Er beginnt daher das Vorwort zum Prinzip Hoffnung mit gewichtigen Fragen und Problemlagen: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. […] Es kommt wieder darauf an, das Hoffen zu lernen.“61 Hoffen und Wollen sind an dieser Stelle durchaus verwandte Motive, insofern sie zum Ausgangspunkt für neue Praxis werden, die die bestehende transzendiert.
In gewissem Widerspruch zum Sollensanspruch der Kantischen Philosophie betont daher die Erweiterung des methodischen Dreischritts die Rückbindung des Handelns an intrinsische Motivationen bei den handelnden Menschen. Sowohl Neurowissenschaften wie auch Forschungen zur Nachhaltigkeit in Bildungsprozessen zeigen sehr deutlich, wie sehr zur nachhaltigen Etablierung von Erkenntnissen und der Transformation in Praxis eine emotionale Dimension gehört. Nur wenn die Erkenntnis sich mit dem erkennenden Subjekt authentisch verschmilzt, wenn es das Erkannte auch in sein Handeln integrieren will, kann von einer authentischen Praxis des Subjekts gesprochen werden:
Sowohl auf der Basis tiefenpsychologischer Einsichten, aber auch aufgrund neuerer neurobiologischer Erkenntnisse deutet sich die Bedeutung einer emotionalen Anschlussperspektive für Lern- und Veränderungsprozesse von Menschen an. Neues, so informiert uns die Neurowissenschaft, kann nur gelernt werden, wenn es mit emotionaler Bedeutsamkeit verbunden62 und sich an die bisherigen kognitiven Strukturen sinnvoll anschließen lässt. Aber nicht einfach nur die emotionale Anbindung ist erforderlich, sondern auch eine Wiederholung der Inhalte, denn um eine tiefere Verankerung zu erreichen, ist im Gehirn die Bildung bestimmter Rezeptorentypen notwendig, die sich aber nur dann herstellen, wenn entsprechende Regionen im Hippocampus innerhalb kurzer Zeit mehrfach stimuliert werden. Dabei stellt sich unter der Perspektive der Nachhaltigkeit natürlich die Frage, wie es gelingt, Lern- und Veränderungserfahrungen so tief zu gestalten, dass sie bis in tiefere Schichten des Bewusstseins eindringen. Hier sind zwei Unterscheidungen wichtig. Denn das Unbewusste (a), in dem sich die tiefsten Erfahrungen einlagern und das im limbischen System und der Amygdala als dessen Zentrum eingetragen werden, entscheidet sehr schnell und sehr effektiv in der Bewertung der Vergangenheit und damit verbunden auch der Frage, ob das, was wir tun gut oder schlecht ist. Dieser Bereich des Gehirns ist also zwar sehr effektiv und schnell aber relativ unflexibel, was auch plausibel ist, weil das Unbewusste eben nicht einfach zu verändern ist. Bei neuartigen und komplexen Fragestellungen kommen statt des limbischen Systems Netzwerke der Großhirnrinde (b) zum Einsatz, die als Sitz des Bewusstseins, also des eigenen Ichs gelten. Im Gegensatz zu (a) arbeiten sie eher langsam und fehleranfällig, haben aber den Vorteil, dass sie komplexe Probleme auf neuartige Weise bearbeiten können, indem sie Informationen verknüpfen und neu konstellieren. Dieser Teil des Gehirns benötigt vergleichsweise viel Energie, weshalb der Körper versucht, diese Hirnleistungen zu minimieren. Für die Frage der Lernvertiefung eine physiologisch problematische Ausgangslage.
Bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit, bei der Frage nach Urteilsstrukturen und im Bereich der Handlungsdimension gilt es folglich jedes Mal, diesem Dreischritt zu folgen und die Integration in das jeweilige Subjekt zu bedenken. Adorno weist schon auf die Verbindung von Erkenntnis und Wollen hin: „Ich meine, daß man überhaupt nicht einen richtigen Gedanken denken kann, wenn man nicht das Richtige will; das heißt, wenn nicht hinter diesem Gedanken, als die eigentliche ihn beseelende Kraft, das steht, daß es richtig sein soll, daß es mit den Menschen in einen Zustand kommen soll, in dem das sinnlose Leid aufhört und in dem, ich kann es immer nur negativ aussprechen, der Bann von den Menschen genommen sein wird.“63
In der befreiungstheologischen Tradition wurde immer wieder betont, das Schema sei auch noch um den Aspekt des Feierns zu erweitern. Das ist durchaus richtig, wird aber hier nicht weiter verfolgt, weil es sakramentenpastoral ja immer unmittelbar auch um den Aspekt der Feier geht, so dass dies hier eine Verdoppelung vorliegen würde. Für andere Bereiche kirchlichen Handelns wär das freilich noch zu ergänzen.
Alle Akteure, also pastoral Handelnde wie beteiligte Subjekte, müssen jeweils sehen, urteilen, wollen und handeln, so dass auch diesem Modell ein Vielperspektivenschema folgt, das folgendermaßen dargestellt werden könnte:
Das in der vorliegenden Arbeit leitende Schema von Sehen – Urteilen – Handeln, das wird im Verlauf der Arbeit an vielen Stellen, vor allem aber im 5. Kapitel deutlich, wird präzisiert durch die Gesellschaftsformationsanalyse (GFA). Entscheidendes Merkmal dabei ist die methodisch geleitete Wiederholung des Dreischritts auf unterschiedlichen Ebenen: Sowohl die pastoral Ermächtigten64 müssen ihren eigenen Standort gründlich analysieren, ihre Wahrnehmung präzisieren, die Situation erhellen und einer kritischen Beurteilung unterziehen, um dann Handlungsperspektiven zu entwickeln, wie dies aber auch die beteiligten Subjekte eines pastoralen Handelns tun müssen. Bei allen ist dabei die gründliche Wahrnehmung der gesellschaftlichen Praxisfelder Ökonomie,