Dein Reich komme. Jürgen Kroth
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Die Wahrnehmung der geschichtlichen und metaphysischen Katastrophe von Auschwitz hat somit zur Folge, dass die marxistischen Hoffnung auf Überwindung der Klassengegensätze als beständiger Fortschritt der Freiheit aufgegeben wird und die Frage immer mehr ins Zentrum rückt, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“87. Auschwitz, der „Mord an Millionen durch Verwaltung“88, verändert somit auch Horkheimers Überlegungen89 zu der Frage, ob die Geschichte abgeschlossen oder unabgeschlossen ist. Weder die Abgeschlossenheit, noch die Unabgeschlossenheit ist theoretisch explizierbar, da dies ein Wissen um das Absolute voraussetzte, das doch nicht möglich ist. Beide Alternativen sind daher als falsch abzuweisen. Insofern treffen die problematischen Anmerkungen Horkheimers zu Benjamins These der Unabgeschlossenheit der Geschichte90 doch ein Richtiges. Ein unmittelbares Wissen um die Geschichte ist im schlechten Sinne theologisch. Möglich ist einzig die Sehnsucht, es möge bei dem bestehenden Unrecht nicht bleiben, es möge anders werden. In dieser Sehnsucht arktikuliert sich Wahrheit, die dem Gedanken folgt, der das Unrecht verneint; diese Wahrheit konvergiert mit der Theologie, die für die praktische Aufhebung bestehenden Leids wie auch für die eschatologische Umkehrung vergangenen Leids einsteht. Die Konvergenz jedoch folgt weder der Suprematie der Theologie über die Philosophie noch umgekehrt. Sie ergänzen sich wechselseitig und sind auch wechselseitig vermittelt, da jeder Glaube, der über seine Hoffnung keine Rechenschaft ablegt, unbestimmt und jede Philosophie, die nicht Theologie in sich bewahrt, Geschäft bleibt.91
Bei Max Horkheimer ist die Rede von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen geprägt von dem Streben, an dem festzuhalten, was wir Sinn nennen92, wofür der Gedanke des Anderen steht. Theodor W. Adorno, in der Konsequenz eins mit Max Horkheimer, setzt an einem anderen Punkt an, indem er das gesamte Denken in der identitätslogischen Gestalt bezichtigt, das Disparate getilgt und Ungleichnamiges komparabel gemacht zu haben. Das der behaupteten Identität Widerstreitende aber ist das Leid und Adorno wundert sich – mit Georg Simmel – sehr, „wie wenig man ihrer Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt“93. Gerade dies aber, „die Leiden beredt werden zu lassen“94, sei Bedingung von Wahrheit, so dass ein jedes Denken, das auf Wahrheit zielt, sich von den realen Leiden irritieren lassen muss. In spezieller Weise gilt dies freilich für die Theologie, die ihren Anspruch auf Erlösung vor der Katastrophe von Auschwitz neu zu prüfen hat. Der Verdacht, die Leiden der Welt ungebrochen und weitgehend unirritiert in den Begriff der Erlösung zu subsumieren, lastet schwer auf der Theologie, vor allem in ihrer transzendentaltheologischen, existentialen und universalgeschichtlichen Figur. Seit Auschwitz ist die Theodizeefrage nicht mehr in der Gestalt zu stellen, ob Gott das Leiden zulasse oder verhindern könne, sondern es ist zu fragen, wie überhaupt von Gott zu reden ist angesichts des Leidens in der Welt. Wie kann eine Sprache gefunden werden, die weder das Leid verharmlost und es zu einem bloßen Moment im größeren Ganzen reduziert, noch aber es mit einer solchen Schwere versieht, die jede Anstrengung, Leid abzuschaffen a priori verunmöglicht? Es könnte jene Sprache der Gebete sein, in der nicht primär über Gott, sondern zu ihm gesprochen wird95, und in denen sich die Frage stets neu stellt, wo Gott denn bleibe, wann er komme. Es kann auch die Sprache der Theologie sein, wenn sie die Theodizee-Empfindlichkeit herausbildet, die ihr von Grund auf eigen sein sollte, in der dann die Frage nach Gott und auch die Rückfrage an Gott, wenn er einst komme, wachgehalten wird, so dass Theologie zu einer eschatologischen Rechtfertigung Gottes drängt. Es könnte aber auch die Sprache einer Philosophie sein, die nicht sich beruhigt, bis die letzte Spur sinnlosen Leidens getilgt ist, und die keine Angst davor hat, „daß der Gedanke, der sich nicht enthauptet, in Transzendenz mündet, bis zur Idee einer Verfassung der Welt, in der nicht nur bestehendes Leid abgeschafft, sondern noch das unwiderruflich vergangene widerrufen wäre“96. Allemal ist es eine Sprache der Sehnsucht, nicht aber der Identität; eine Sprache, die das Ganze im Blick hat, ohne das Ganze zu repräsentieren; eine Sprache der Sympathie, die dem Ausdruck schafft, was seiner Stimme schon beraubt ist; eine Sprache, die sich nicht in der logisch stringenten Explikationen theologischer und philosophischer Erstannahmen beruhigt, sondern gegen sich selbst noch andenkt. Solche Sprache hält gegen alle Erklärungsversuche an der Sinnlosigkeit des Leids fest, als sei die Negativität des Leids in Wahrheit das Gute.
„6. Die Grundlegung der Theologie und damit die Einführung der Rede von Gott wäre dann gebunden an die Analyse solchen Handelns und nur denkbar aus dem Vollzug solchen Handelns: erst aus so strukturierter intersubjektiver Praxis wird Gott als Wirklichkeit identifizierbar und benennbar. Das Wort ‚Gott’ kann und muß dann in diesem Zusammenhang eingeführt werden. Theologie insgesamt käme aus dieser Praxis und verwiese in diese Praxis. Theologie insgesamt wäre dann schon in ihrem theoretischen Ansatz und ihrer Grundbegrifflichkeit eine durch eine spezifische Praxis konstituierte praktische Wissenschaft.“
Eben wurde schon der scheinbar banale Satz von Johann Baptist Metz zitiert, dass Christus immer so gedacht werden müsse, dass er nie nur gedacht sei. In engem Zusammenhand damit bindet Metz die gesamte Gottesrede in eine Nachfolgepraxis ein: „Nur ihm nachfolgend wissen Christen, auf wen sie sich eingelassen haben und wer sie rettet.“97 Diese Sätze geben ein ganzes theologisches Programm an, auf das Helmut Peukert sich hier beziehen kann, das aber freilich auch nicht einfachhin eine Erfindung der Politischen Theologie ist, sondern tief eingebunden in die Glaubens- und Denktradition des Judentums und Christentums. Es geht nämlich um die Verhältnisbestimmung von Orthodoxie und Orthopraxie. Es geht um die Rückbindung der Gottesrede an eine Praxis, in der das Erhoffte auch schon anfanghaft vorweggenommen wird. Wenn ich wirklich Gott sage, muss diese Gottesrede auch meine Wirklichkeit berühren und sie verändern, und nur von der Veränderung der Wirklichkeit her kann ich eine glaubhafte Verifizierung der Gottesrede erwarten. „Kehren wir Christen in diesem Lande“, so ließe sich mit Metz fragen, „um, oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten? Folgen wir nach, oder glauben wir nur an die Nachfolge und gehen dann unter dem Deckmantel der geglaubten Nachfolge die alten, immer gleichen Wege? Lieben wir, oder glauben wir an die Liebe und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Liebe die alten Egoisten und Konformisten? Leiden wir mit, oder glauben wir nur an das Mitleiden und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten ‚Sympathie’ allemal die Apathischen?“98 Es reicht also nicht, einfach nur zu glauben. Ein nur geglaubter Glaube ist förmlich nicht der Glaube Jesu Christi. Das wird bereits in der markinischen Erzählung von der Auferstehungserfahrung deutlich, wo die Erfahrung der Auferstehung auch rückgebunden ist an die Praxis der Nachfolge, und zwar eine Nachfolge, die in die Brisanz der jesuanischen Geschichte einführt. Ist somit also der Glaube in wesentlichen Teilen eine Praxis, muss auch die Theologie als Reflexion dieser Praxis eine praktische Wissenschaft sein: eine Wissenschaft, die aus der Praxis heraus in die Praxis hineinführt, sie begleitet, irritiert, kritisiert und inspiriert. Das aber ist nicht eine wissenschaftspolitische Setzung, sondern folgt der inhärenten Logik der Theologie, wie sie in Punkt 7 deutlich wird.
„7. Und praktische Theologie wäre die explizite Theorie eines Handelns, die in unserer konkreten Gesellschaft unter zerreißenden, aporetischen Erfahrungen eine Identität ermöglichen will, die sich der unbedingten Zuwendung