Geist & Leben 4/2016. Группа авторов

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kontemplativen zum seelsorgerlichen Leben übergehen. Und zwar ganz gegen meine Absicht, nur weil die Leute es brauchen.“3 Diese Umformung gewinnt ab ca. 1905, dem Jahr, da er sich bei den Touareg niederlässt, ein zunehmendes Profil. Zwar bleibt der kontemplative Grundzug seines Lebens erhalten – viele Stunden verbringt er noch immer vor dem Allerheiligsten, um sich für die Menschen seiner Umgebung zu „heiligen“ und sie stellvertretend vor Gott hinzutragen –, doch führen ihn die neuen „Verhältnisse“, in denen er den Anruf Gottes an sich erkennt, über die kontemplative Lebensform hinaus. Indem er unter den Touareg ganz und gar „präsent“ ist und ihr Vertrauen und ihre Freundschaft gewinnt, wird er bei ihnen mehr und mehr das, was heute (!) Entwicklungshelfer genannt werden könnte. Er ist der Berater des Amenokal, des wichtigsten Stammeschefs der Touareg, in politischen und ökonomischen Angelegenheiten. Er gibt Ratschläge für die Landwirtschaft und für die medizinische Betreuung; er lehrt die Touareg-Frauen Stricken und Häkeln. Vor allem aber lernt er die Sprache, sammelt die literarische Tradition der Touareg (allein über 5000 Gedichtverse!) und arbeitet bis zur Erschöpfung an einem erst nach seinem Tod veröffentlichten, bis heute unübertroffenen vierbändigen, über 2000 Seiten umfassenden Wörterbuch Tamaschek – Französisch.

      Mit all dem wandelte sich die Perspektive dessen, was bisher „Spiritualität der Wüste“ genannt wurde. Die Wüste ist nicht mehr (nur) der Ort der Abgeschiedenheit und des Schweigens, sondern der Ort, „Gutes zu tun“, wie es in geradezu naiver Stereotypie unendlich oft in den Reisenotizen, Aufzeichnungen und Briefen Bruder Karls heißt. Gemeint ist mit „Gutes tun“, dass er den Menschen seiner Umgebung, aber auch denen, die er auf seinen Reisen zu den Oasen, Camps und Wasserstellen trifft, auf unspektakuläre, aber herzliche Weise beisteht. Aufgrund der Kolonialisierung Nordafrikas beginnt das alte Wirtschafts- und Sozialsystem zu zerbrechen; Heuschrecken verwüsten die Felder, über Jahre hinweg bleibt der Regen aus; Hunger ist die Folge. So gibt es viel Armut und Elend. Angesichts dieser Not gibt Bruder Karl den Leidenden, Hungernden und Bedürftigen Lebensmittel, Medikamente, kleine Geldbeträge. Er verbindet mit guten, tröstlichen Worten auch kleine Geschenke, wie z.B. Nadeln, Scheren und dergleichen mehr. Das „Gute“, was er tut, ist nichts Großartiges; er versteht es selbst nur als „Zeichen“, nämlich als Zeichen seiner Liebe und Zuwendung und als allererste Vorbereitung der Evangelisierung. Dieses „Gutes tun“ ist ihm so wichtig, dass er darüber seine Sehnsucht nach einem mönchischen Leben zurückstellt und stattdessen mit französischen Militärs oder Touareg-Karawanen gewaltige Exkursionen durch die Wüste unternimmt.

      Auch seine Einsiedeleien, die eigenen und diejenigen, die er für künftige Brüder plant, sollen Ausstrahlungsorte sein, von wo aus man den Menschen in ihrer „Wüstenexistenz“ hilfreich zur Seite steht. So heißt es in einem seiner vielen „Regelentwürfe“: „Die Kleinen Brüder (…) schenken Gastfreundschaft, materielle Unterstützung und im Krankheitsfall Heilmittel und Pflege einem jeden, der sie darum bittet (…) So sollen alle im weiten Umkreis genau wissen, dass die Bruderschaft das Haus Gottes ist, wo allzeit jeder Arme, jeder Fremde, jeder Kranke mit Freude und Dankbarkeit eingeladen, gerufen, erwünscht und aufgenommen ist. Und zwar durch Brüder, die ihn lieben, ihm herzliche Zuwendung erweisen und die Aufnahme unter ihr Dach wie den Gewinn eines kostbaren Schatzes betrachten.“4

      Nimmt man hinzu, dass Bruder Karl sich bis zum Letzten für die „Entwicklung“ der Touareg engagiert, so zeigt sich bei ihm tatsächlich ein ganz neuer Schritt im Verständnis der „Wüste“: Sie wird bei ihm zur „Chiffre“ für das „Gegenwärtigsein“ (présence) unter den Menschen und für die Herausforderung, ihnen tatkräftig zur Seite zu stehen. Die „Dämonen der Wüste“ (wie sie das frühe Mönchtum erfahren und beschrieben hat) sind für Bruder Karl nicht „leibhaftige böse Geister“, sondern Armut und Krankheit, die Misere der Menschen, der Verlust ihrer Rechte und Würde im Kolonialsystem, ihre (mit heutigen Worten gesagt) „Unterentwicklung“ in materieller, geistiger und v.a. religiöser Hinsicht. Wüste ist damit nicht mehr (nur) Ort der Gottesbegegnung, insofern sie für das still-traute Alleinsein mit Gott steht, sondern sie ist es primär in dem Sinn, dass man hier Christus im notleidenden Bruder, in der angefochtenen Schwester begegnet und ihnen, so gut es geht, geistlich (in stellvertretendem Gebet), aber eben auch materiell, durch tatkräftigen Einsatz, zu Hilfe kommt. Von den über 6000 Briefen, die von Foucauld erhalten sind, richten sich ca. 500 an französische Militärs, in denen er sich in kolonialpolitische Angelegenheiten „einmischt“. Er legt Pläne für eine Verwaltungsreform der Sahara-Gebiete vor und protestiert gegen Vergewaltigungen, willkürliche Konfiszierungen, verschleppte oder ungerechte Rechtssprechung. Nicht von ungefähr ist Mt 25 einer seiner am häufigsten angeführten Bibeltexte.

      Zu Recht bemerkt Jean-Francois Six zu diesem neuen Verständnis von Wüste: „Foucauld lädt dazu ein, sich wie der Sohn Gottes mit letzter Konsequenz auf die Grenzen der menschlichen Existenz einzulassen, die Wüste und damit Mühe und Hoffnung, Sterben und Auferstehen eines jeden (…) zu teilen,“5 v.a. das Leben derer, die am Rande stehen, das Leben der Armen, Kleinen, Verachteten, Asylanten. Wüste steht nun für die vielgestaltigen Formen der Not und des Elends, für die Welt, die als unbehaust und ungeborgen, als unfruchtbar und sinnlos erscheint. Diese Wüste, die Wüstenexistenz der Welt, der Gesellschaft und des eigenen Lebens, gilt es, geistlich zu bestehen, nicht nur in Gebet und Kontemplation, sondern in der Praxis solidarischen Handelns. Diese Wüste provoziert dazu, den Glauben in der Einheit von Kontemplation und Tun zu leben und in Wort und Praxis zu bezeugen. Das ist das Neue am geistlichen Wüstenverständnis von Bruder Karl, und damit ist sogar eine gewisse Fokussierung der Glaubenspraxis vor aller Kontemplation gegeben.

      Dieses neue Verständnis Bruder Karls wurde von den Gemeinschaften der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds aufgegriffen, v.a. in den verschiedenen Kommunitäten der Kleinen Brüder und Kleinen Schwestern. Sie leben „mitten in der Welt“ – so die Programmschrift von René Voillaume, dem Gründer einiger dieser Gemeinschaften. „Mitten in der Welt“ ist nicht als Ortsangabe gemeint, sondern als emphatische Herausstellung der konkreten Strukturen unserer Gesellschaft, wie die Mehrheit der Menschen sie erfährt. Es ist eine Gesellschaft, wo Menschen – nicht selten enttäuscht und einsam, krank und alt – um ihr nacktes Dasein kämpfen müssen, um Arbeit, Brot und Wohnung, wo sie ihr Leben im alltäglichen Trott verbringen und keine großen Perspektiven kennen, aber auch wo sie die „ewig-gleichen“ Sehnsüchte, Wünsche, Hoffnungen und Freuden in sich tragen und miteinander teilen, wo sie sich gegenseitig beistehen und einander solidarisch sind. Mitten unter ihnen und gleich ihnen haben die Christen zu leben und diese unsere gemeinsame Welt als große „Wüste“ zu bestehen. Von daher kommt es in der Geistlichen Familie Charles de Foucaulds zur programmatischen Formulierung: „In deiner Stadt ist deine Wüste“ (Carlo Carretto), eine Formel, die zu den charakteristischen Grundworten gegenwärtiger Spiritualität zählen dürfte, da sie gleichzeitig auch von verschiedenen anderen geistlichen Gemeinschaften aufgegriffen wurde.6

      Diese von Bruder Karl im Verlauf seines Lebens neu vollzogene Einheit von Kontemplation und (öffentlicher!) Aktion, von intensivem Vor-Gott-Stehen und radikaler présence unter den Menschen, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jhs. von einer Reihe geistlicher Menschen und spiritueller Bewegungen je eigenständig neu entdeckt und mitvollzogen und dürfte heute zum Mainstream gegenwärtiger Spiritualität gehören.

      Eine neue Sicht der Evangelisierung

      Das apostolisch-diakonische Engagement von Bruder Karl ist letztlich auf das eine große Ziel ausgerichtet, den Menschen das Evangelium zu bringen. Aber dies hat – so erkennt er deutlich im hautnahen Umgang mit der islamischen Welt – eine Reihe von wesentlichen Voraussetzungen. Vor allem muss der Evangelisierung die „Präevangelisierung“ vorausgehen. Diese Idee findet sich zwar nicht dem Begriff, wohl aber der Sache nach in aller Klarheit erstmals bei Bruder Karl. So schreibt er an seinen Freund Henri de Castries, dass nach seiner Einschätzung die Stunde der Missionierung noch nicht gekommen sei, wohl aber die Stunde der „Arbeit, die Evangelisierung vorzubereiten (travaille préparatoire à l’évangélisation): nämlich Vertrauen zu wecken, Freundschaft zu schließen, Zutraulichkeit zu erreichen, einander Bruder

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