Die Naturforschenden. Группа авторов

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für Royer «nichts Schicksalhaftes, nichts Absolutes».36 Dies hatte mit ihrer lamarckistischen Lektüre Darwins zu tun. Royer glaubte, dass Menschen und Tiere auch solche körperlichen oder mentalen Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererben konnten, die sie erst nach ihrer Geburt erworben hatten. Daraus leitete sie eine Evolutions- und Geschlechtertheorie ab, die aus drei Phasen bestand. Bei den frühesten Vorfahren des Menschen hätten sich Männchen und Weibchen körperlich und geistig kaum voneinander unterschieden. Zu einer geschlechtlichen Differenzierung sei es erst durch die Verknappung der natürlichen Lebensressourcen gekommen, was den Konkurrenzdruck zwischen den frühsten Urmenschen erhöht habe. In dieser zweiten Phase des Evolutionsprozesses habe sich eine geschlechtliche Arbeitsteilung zum Schutz des eigenen Nachwuchses und damit zur Erhaltung der eigenen Art als Selektionsvorteil herausgebildet. In körperlicher Hinsicht sei es zu einer Rückbildung der männlichen Brustdrüsen gekommen respektive zu einer Spezialisierung der Frauen auf das Stillen ihres Nachwuchses.37 Männer hätten ihren Bewegungsradius bei der Nahrungssuche und im Kampf gegen Konkurrenten ausgeweitet, was eine Zunahme ihrer Körperkraft und ihrer Intelligenz zur Folge gehabt habe. Frauen hätten demgegenüber ihre mütterlichen und häuslichen Instinkte ausgeprägt. Die feministische Pointe dieses Arguments ist, dass die natürliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern kein primäres Merkmal der menschlichen Art ist, sondern ein gesellschaftlich erworbenes, sekundäres Merkmal. Die biologischen Geschlechterunterschiede sind so gesehen nicht statisch. Sie sind vielmehr dem naturhistorischen Wandel unterworfen und können sich in Zukunft wieder ändern, sprich: zurückbilden. Genau darauf lief Royers Argumentation hinaus. Die «zivilisierten Rassen» befänden sich nämlich, so Royer, an der Schwelle zu einer dritten Phase des Evolutionsprozesses, in welcher die Geschlechterasymmetrien nicht mehr notwendig und sogar kontraproduktiv seien. Anstelle von Körperkraft und Härte bei Männern sowie Häuslichkeit und Vorsicht bei Frauen verlange das Leben in modernen Industriegesellschaften zunehmend die Entwicklung von geistigen und sozialen Fähigkeiten beiderlei Geschlechter. Um das Leben in Städten harmonisch zu gestalten, müssten Männer Körperkraft und Intelligenz mit Emotionalität verbinden, Frauen Schönheit mit Stärke, Zärtlichkeit mit Intelligenz.38 Biologisch war dies in Royers Konzeption denkbar, weil Mädchen und Knaben sowohl die Merkmale ihrer Mütter als auch jene ihrer Väter erbten. Männer hatten, so gesehen, auch weibliche Dispositionen (daher beispielsweise die Brustwarzen) und umgekehrt. Damit beide Geschlechter ihre jeweils männlichen und weiblichen Dispositionen entfalten können, müssten jedoch die rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der Frauen aufgehoben werden. Nur so könnten sie im Wettbewerb mit den Männern ihre schlummernden männlichen Dispositionen zu Intelligenz, Mut und Aktivität entwickeln und an ihre Töchter weitervererben. Die biologischen Geschlechterasymmetrien waren für Royer also durchaus in der Natur verwurzelt. Sie waren jedoch nichts Urtümliches, sondern eine sekundäre naturgeschichtliche Erscheinung, die notwendig war, um den Zustand der Zivilisation zu erreichen, in welchem sie nun zum Verschwinden gebracht werden sollten.

      DIE WEISSE FRAU ALS HÜTERIN IHRER «RASSE»

      Dass Royer den menschlichen Geschlechtskörper als etwas Androgynes und Wandelbares verstand, ist ein Gedanke, der auch in aktuellen Geschlechtertheorien Resonanz findet.39 Royers Geschlechtertheorie hatte jedoch eine problematische Kehrseite. Die tiefste Wahrheit über die Natur des Menschen war für Royer nämlich die Hierarchie zwischen menschlichen «Rassen». «Der erste Blick, den wir auf die Gesamtheit der lebenden Menschheit werfen», schrieb Royer in ihrem evolutionstheoretischen Hauptwerk von 1869, «zeigt uns diese in grosse Rassen unterteilt, sehr ungleich in ihren Fähigkeiten, in ihren gesellschaftlichen Organisationsweisen, in ihren körperlichen Eigenschaften, in ihrer Vorherrschaft und geografischen Ausbreitung auf dem Planeten […]. An der Spitze der Reihe hebt sich die weisse – auch arische oder indoeuropäische – Rasse ab […].»40

      Mit ihren rassentheoretischen Ansichten stand Royer nicht alleine da. In einem schweizerischen Zusammenhang lässt sie sich als Vertreterin eines radikalen, säkularisierten Rassismus einordnen, den sie mit ihrem Genfer Kollegen Carl Vogt teilte. Auch er war ein atheistischer Verfechter des Evolutionsgedankens. Im Unterschied zu Royer glaubte er nicht, dass alle «Rassen» aus demselben «Stamm» hervorgegangen seien, sondern unterschied mehrere Wurzeln (Polygenismus). Ähnlich wie Royer sah er die Rassen in einem zutiefst hierarchischen Verhältnis. Afrikaner «erinnerten» ihn etwa «unwiderstehlich an den Affen».41 Andere Naturforscher teilten zwar Darwins These von der Wandelbarkeit der Arten, hielten jedoch aus religiösen Überzeugungen am Gedanken der göttlichen Schöpfung fest. Auch sie teilten die Menschheit in verschiedene «Rassen» ein, sahen diese jedoch als Variationen innerhalb derselben Art. Sprachlich äusserten sie sich zurückhaltender und setzten sich vor allem für den «Schutz» der vom Untergang bedrohten «Naturvölker» ein.42 Einen Spezialfall bildete der Neuenburger Naturforscher Louis Agassiz, der Lehrer Carl Vogts. Er lehnte den Darwinismus aus religiösen Gründen ab, vertrat jedoch ähnlich wie Vogt einen polygenetischen Rassismus, den er im Unterschied zu Royer und Vogt jedoch nicht so sehr in seinen Publikationen, sondern in privaten Äusserungen ausbreitete.43

      In Royers Konzeption war die Hierarchie zwischen den «Rassen», im Unterschied zu jener zwischen den Geschlechtern, nicht nur fundamental und unüberwindbar, sondern auch weit grösser als in den Augen ihrer Zeitgenossen. Strichen diese vor allem die Nähe «primitiver Rassen» zu Primaten hervor, betonte Royer:

      «Es lässt sich sogar ohne Furcht behaupten, dass ein Mincopie [Bewohner der Andamanen], ein Buschmann, ein Papua oder sogar ein Lappländer [geistig] nicht nur näher mit einem Affen, sondern auch näher mit einem Känguru verwandt ist als mit einem Descartes, einem Newton, einem Goethe oder einem Lavoisier.»44

      Wenn wir Royers Geschlechtertheorie mit ihrer Rassentheorie kombinieren, lässt sich ihre Position als eine Art feministischen Rassismus oder rassistischen Feminismus charakterisieren. Der Fluchtpunkt von Royers Denken bildete stets der «Fortschritt» der weissen «Rasse». Anders als bei ihren männlichen Kollegen spielten Frauen in diesem Prozess jedoch nicht nur eine passive und nebensächliche, sondern eine aktive, ja die zentrale Rolle, wie sie in einer Passage über sexuelle Verbindungen («Blutsmischung») zwischen unterschiedlichen «Rassen» erläuterte:

      «Der Widerwille gegen die Blutsmischung zeigte sich zuerst bei den überlegenen Rassen und zwar stärker bei den Weibchen als bei den Männchen. Bis zum heutigen Tag ist es eine universelle Tatsache, dass Kreuzungen zwischen der weissen Rasse und minderwertigen Rassen aus Verbindungen zwischen dem Weissen und der Negerin, der Inderin oder der Australierin hervorgehen; nur in Ausnahmefällen – etwa in Fällen von Gewalt – findet man Beispiele von Mischungen zwischen der weissen Frau und Männern anderer Rassen.»45

      Die Gründe, weshalb sexuelle Verbindungen zwischen europäischen Männern und farbigen Frauen häufiger waren als umgekehrt, waren politischer und kultureller Art: Gerade zum Schutz des weissen Überlegenheitsanspruchs wurde der Kontakt zwischen europäischen Frauen und farbigen Männern auf den Plantagen und in Handelsstädten in Übersee durch die Kolonialmächte eingeschränkt.46 Royer erklärte sich diese Tatsache jedoch biologisch, mit einem angeblich angeborenen «Widerwillen» weisser Frauen gegenüber farbigen Männern. Die weisse Frau sorgte in ihrer Konzeption also für die «Reinheit» und angebliche Überlegenheit ihrer «Rasse».

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      Abb. 8: Im hohen Alter wurde Clémence Royer in Frankreich mehrfach geehrt. Dieses Porträt entstand 1902 kurz vor ihrem Ableben. Es zeigt sie mit dem roten Band der französischen Ehrenlegion.

      SCHLUSS

      Damit entpuppt sich Royer als gleichermassen faszinierende und ambivalente Denkerin. Sie schrieb in origineller Weise gegen die naturwissenschaftliche Begründung der Diskriminierung von Frauen an. Anders als spätere Generationen von Feministinnen entlarvte sie angeblich biologische

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