Die Naturforschenden. Группа авторов

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Niederschlagsverhältnisse schloss. Aus dem Vergleich der Vegetation ging für Brügger hervor, dass der Lukmanier in klimatologischer Hinsicht «von Seite der Natur» eindeutig bevorzugt werde.51 Diese Verbindung von Botanik und Klimatologie war typisch für Brügger. Sein Interesse an Wetterzuständen war aus der Beschäftigung mit der Botanik, seinem lebenslangen Forschungsschwerpunkt, entstanden. Brügger ging davon aus, dass Veränderungen in der Vegetation zu Klimaveränderungen führten und nicht etwa umgekehrt. Die Abholzung im Kanton Graubünden kritisierte er deshalb scharf. Als im Mai 1858 grosse Schneefälle auftraten, stellte er diese in Zusammenhang mit der Entwaldung. Die direkte Ursache des «in seinem Gleichgewicht gestörten, in seinem innersten Triebwerk verletzten, daher unregelmässiger und excessiver gewordenen Klimas» war für ihn die Abholzung der Bergwälder.52 Ob bei Tunnelprojekten oder forstwirtschaftlichen Fragen, Brügger nahm an vielen Diskussionen im Kanton Graubünden aktiv teil. Für ihn waren seine naturwissen schaftlichen Untersuchungen Ausdruck seiner «unauslöschlichen Anhänglichkeit und Begeisterung» für sein «theures Heimathland Graubünden».53

      LOKALKUNDE FERNAB DER WISSENSCHAFTLICHEN ZENTREN

      Nach zehnjährigem Aufenthalt in Zürich kehrte Brügger 1870 in seinen Heimatkanton zurück und unterrichtete in den folgenden 28 Jahren als Kantonsschullehrer in Chur Naturgeschichte und Geografie. Während dieser Zeit war er ein aktives Mitglied in der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens, von 1873 bis 1879 deren Vizepräsident. Insgesamt hielt Brügger an den Vereinsversammlungen über 50 Vorträge.54 Das Themenspektrum, das von botanischen Raritäten des naturhistorischen Museums über Wanderheuschrecken, Föhnwind und Fischerei bis hin zu Steinkohlevorkommnissen reichte, zeugt von seinem breiten Interessenhorizont.55 Aufgrund dieser vielseitigen wissenschaftlichen Tätigkeit wurde Brügger «zur alten Schule der Naturforscher» gerechnet.56 Der spätere Präsident der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens schrieb anlässlich Brüggers Tod 1899, der Verstorbene sei «der beste Kenner unseres schönen Bündnerlandes» gewesen und «weit umher als solcher bekannt, viel citiert und consultiert».57

      Die «alte Schule» der Naturforscher war in den neuen wissenschaftlichen Institutionen kaum vertreten. Die Berufswissenschaftler in akademischen Zentren wie Zürich grenzten sich zunehmend gegen Forscher ohne Hochschulanbindung ab. Während Brüggers floristische Beiträge, an denen er jahrelang gearbeitet hatte, in Graubünden Anerkennung fanden, lautete das Urteil der Botaniker an den Universitäten ganz anders. Die meisten seiner Beschreibungen von Pflanzenarten galten in akademischen Kreisen als Irrtümer.58 Die heftige Kritik ging nicht spurlos an Brügger vorbei. Er lebte zurückgezogen und fuhr in seiner Freizeit unentwegt fort, botanische, zoologische, klimatologische und historische Materialien zum Kanton Graubünden zusammenzutragen. Das als Synthese seiner grossen Pflanzensammlung geplante Werk «Die Flora des Kantons Graubünden» vollendete er nie. Zu einem erfolgreichen Abschluss brachte er hingegen ein Projekt, das seine historischen und meteorologischen Interessen kombinierte. In sechs Bänden gab Brügger von 1876 bis 1888 im Selbstverlag die «Natur-Chronik der Schweiz insbesondere der rhätischen Alpen» heraus, eine Auflistung der Wetterereignisse in Graubünden vom 11. bis zum 18. Jahrhundert. Dem ersten Band stellte er das Motto voran: «Der Meteorolog ist nichts als Geschichtsschreiber der Witterung: er hat es nur damit zu thun, die Gesetze der vergangenen Ereignisse aufzusuchen.»59 Während also die Meteorologische Zentralanstalt in Zürich Ende der 1870er-Jahre ihren primären Arbeitsbereich der Klimastatistik um die Wetterprognostik erweiterte, ging Brügger der Meteorologie nunmehr in Form einer Naturgeschichte nach. In Zürich würdigte man seine mühevollen Recherchen für die «Natur-Chronik», aber gleichzeitig hielt man ihm vor, dass er diese Materialsammlung nicht wissenschaftlich weiterverarbeitet habe.60 Die Praktiken der «alten Schule der Naturforschung», die hauptsächlich im Sammeln, Beschreiben und Auflisten bestanden, reichten in den wissenschaftlichen Zentren nicht mehr zur Anerkennung. Der Institutionalisierungsprozess führte Ende des 19. Jahrhunderts schliesslich zur Aufteilung der Naturforschung in akademische Wissenschaft einerseits und untergeordnete Hobbytätigkeit andererseits.

      BERNHARD C. SCHÄR

      EVOLUTION, GESCHLECHT UND RASSE

      Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung

      Der Ausgangspunkt jeglicher Politik muss lauten: «Die Menschen sind von Natur aus ungleich.»1 So formulierte es Clémence Royer 1862 im Vorwort ihrer Übersetzung von Charles Darwins Werk «On the Origin of Species» (Deutsch: Über die Entstehung der Arten). In diesem epochenmachenden Buch präsentierte der Engländer 1859 erstmals seine Theorie über die Geschichte der Natur. Nicht Gott würde Tiere und Pflanzen erschaffen, sondern die «natürliche Selektion». Im Wettbewerb um beschränkte natürliche Ressourcen überlebten jene Arten, die am besten an die Umwelt angepasst seien. Dadurch würden sich die Arten beständig weiterentwickeln und verändern.2

      Die französische Philosophin Clémence Royer (1830-1902) übersetzte Darwins Werk in der Stadtbibliothek Lausanne ins Französische. Sie fügte dem Buch nicht nur zahlreiche Kommentare in Fussnoten, sondern auch ein 60-seitiges Vorwort bei. Dieses sorgte in der französischsprachigen Welt für ähnlich viel Wirbel wie Darwins Theorie selbst. Der Grund hierfür war, dass Royer «mehr noch als Herr Darwin», wie sie in ihrem Vorwort erklärte, «viele Hypothesen»3 wagte:

      «[D]as Gesetz der natürlichen Selektion zeigt, auf den Menschen angewendet, in überraschender und zugleich schmerzhafter Weise, wie falsch unsere bisherigen politischen und gesellschaftlichen Gesetze wie auch unsere religiöse Moral gewesen sind.»4

      Die Moral «unserer christlichen Ära» zeichne sich durch eine «Übertreibung dieses Mitleids, dieser Wohltätigkeit, dieser Brüderlichkeit» gegenüber Schwachen, Kranken und Armen aus. Diese würden «schwer auf den Schultern der Gesunden lasten» und «drei Mal mehr Platz an der Sonne beanspruchen als gesunde Individuen!»5

      «Was folgt aus diesem exklusiven und unklugen Schutz für die Schwachen, die Kranken, die Unheilbaren, selbst für die Bösartigen, für alle, die gegenüber der Natur in Ungnade gefallen sind? Nichts anderes, als dass das Übel, unter dem sie leiden, dazu tendiert, bis in alle Ewigkeit fortzubestehen und sich zu vervielfältigen; dass dieses Übel sich vergrössert anstatt sich verkleinert; und dass es sich auf Kosten des Guten vermehrt.»6

      Jahre bevor der Begriff Eugenik erfunden wurde, 7 war Royer 1862 eine der ersten Intellektuellen, die solche Schlussfolgerungen aus Darwins Theorie ausformulierte. Obschon sie dies nicht explizit schrieb, legten ihre Äusserungen nahe, dass es im «Kampf ums Dasein» besser sein könnte, Schwache, Kranke und Pflegebedürftige sterben zu lassen oder ihre Fortpflanzung zu verhindern.

      Mit dieser Haltung verkörperte Royer einerseits wesentliche Merkmale des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Denkens. In einer Zeit, als Frauen in Europa nicht nur von politischen Ämtern, sondern auch von Universitäten ausgeschlossen waren, war Royer aber andererseits eine Ausnahmeerscheinung. Sie war eine der wenigen Frauen in der französischsprachigen Welt, die sich auf Augenhöhe mit den grössten Theoretikern ihrer Zeit intellektuell duellierten. Sie vertrat in diesen Debatten einen pointiert feministischen Standpunkt.8 Dieser unterschied sich nicht nur von den vielfältigen Theorien ihrer Zeitgenossinnen (und erst recht von den Theorien all ihrer männlichen Zeitgenossen), sondern auch von den feministischen Theorien ihrer Nachfolgerinnen. Während etwa Royers Landsfrau Simone de Beauvoir fast ein Jahrhundert später proklamierte, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Gesellschaft zu einer solchen gemacht werde, 9 hielt Royer an der Auffassung fest, dass Menschen entweder als Männer oder als Frauen geboren würden und von Natur aus ungleich seien. Das Originelle an Royers Argument war jedoch, dass gerade diese natürliche Ungleichheit der Grund sei, weshalb Frauen (zumindest solche der «weissen Rasse», wie wir sehen

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