Die Naturforschenden. Группа авторов

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Darwins Theorie eine wichtige Rolle spielte.

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      Abb. 4: Porträt der jungen Clémence Royer, vermutlich aus den 1860er-Jahren.

      Darwin schickte Royer am 10. September 1861 eine Kopie seines «Origin» zu. Royer arbeitete schnell. Die gedruckte Übersetzung erreichte Darwin weniger als ein Jahr später im Sommer 1862. Amüsiert, aber auch beeindruckt von Royers Stil sowie insbesondere von ihrem Vorwort und den zahlreichen Kommentaren in den Fussnoten, schrieb Darwin einem Freund in den USA: «Madlle [sic] Royer muss eine der klügsten und ungewöhnlichsten Frauen in Europa sein […]. Sie landet einige ausgefallene und guten Schläge […]».23 Ihr selber soll er geschrieben haben, dass er ein «verlorener Mann» gewesen wäre, hätte er sich so explizite Schlussfolgerungen zu formulieren getraut wie sie.

      Die Zusammenarbeit zwischen Royer und Darwin dauerte bis 1869. Dann endete sie in einem Eklat. Bereits vorher hatte es verschiedene Schwierigkeiten gegeben. Ein Problem war, dass Royer als Frau keine formale universitäre Ausbildung absolvieren konnte. Als Autodidaktin und Theoretikerin fehlten ihr praktische Erfahrungen etwa beim Sezieren von Tieren im Labor. Dies führte zu Missverständnissen bei der Übersetzung. Um diese möglichst gering zu halten, sollte sich Royer eigentlich vom Westschweizer Zoologen Edouard Claparède (1832-1871) beraten lassen, der sich mit einer sehr positiven und informierten Besprechung von Darwins Werk hervorgetan hatte.24 Claparède war jedoch kränklich. Es sei ihm, wie er Darwin nach Erscheinen der französischen Erstauflage schrieb, nicht gelungen, Royers Drang nach Kommentierung und Weiterentwicklung einzudämmen.25

      Dass Übersetzer nicht bloss Texte von der einen in die andere Sprache übertrugen, sondern auch ihre eigene Lesart und Weltsicht in sie hineinlegten, war im 19. Jahrhundert indes nichts Ungewöhnliches. Mit Darwins erster deutscher Übersetzung war ähnliches passiert.26 Was nun Royer betraf: Sie sah in Darwins Werk in erster Linie eine empirische Bestätigung ihrer eigenen antiklerikalen, evolutionstheoretischen Philosophie, die sie sich in der Bibliothek Lausanne insbesondere durch die Lektüre des zwischenzeitlich etwas in Vergessenheit geratenen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck (1744-1828) erarbeitet hatte. Royer sah in Darwin folglich einen Verbündeten, dessen Lehre sie mit ihrem Vorwort und ihren Kommentaren einer möglichst breiten französischen Leserschaft näherbringen wollte. Wie ihre beiden Biografinnen herausgearbeitet haben, wich Royers Lesart jedoch in zwei Punkten von Darwins Lehre ab. Der eine Punkt betrifft die Traditionslinie zu Lamarck. Tatsächlich hatte auch dieser bereits davon gesprochen, dass sich tierische Arten an die Umwelt anpassen könnten und sich in der Generationenfolge verändern würden. Lamarcks Ideen waren jedoch spekulativ gewesen. Vor allem aber übersah Royer, dass Darwin mit seinem Konzept der natürlichen Selektion einen fundamental neuen Mechanismus einführte, der den Artenwandel nicht nur postulierte und beschrieb, sondern auch – auf andere Weise als Lamarck – erklären konnte. Die zweite Differenz zu Darwin bestand darin, dass Royer – wie so viele andere auch – die Evolutionstheorie als (Natur-) Gesetze des Fortschritts verstand, «des Lois du Progrès», wie sie den Untertitel übersetzte. In Darwins Konzeption hatte der Evolutionsprozess jedoch keine eindeutige Richtung.27

      Für die zweite französische Auflage verlangte Darwin etliche Anpassungen, so etwa den Verzicht auf den Begriff Fortschritt im Untertitel, und er löschte auch einen ihrer Fussnotenkommentare. Das Vorwort liess er jedoch stehen. Obschon er befürchtete, dieses schade der ohnehin harzigen Rezeption seiner Theorie in Frankreich, schätzte er an Royer, dass sie die wichtigsten Elemente seiner Lehre nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch ausgezeichnet erfasst hatte, wie er sich von französischen Freunden versichern liess. Für die dritte Auflage beging Royer jedoch in den Worten ihrer Biografin Joy Harvey den «enormen Fehler», 28 ein neues Vorwort zu verfassen, in dem sie Darwin direkt angriff. Die Kritik bezog sich nicht auf den «Origin», sondern auf Darwins neueste Theorie über die Vererbungslehre. Im historischen Rückblick betrachtet, handelt es sich um einen Nebenschauplatz.29 Für Darwin selber war dieser jüngste Baustein in seinem Theoriegebäude jedoch sehr wichtig, weshalb er ausserordentlich verärgert auf Royers Kritik reagierte. Dass Royer es zugleich versäumt hatte, Verbesserungen und Ergänzungen aus den aktuellsten englischen Neuauflagen in ihre Übersetzung einzuarbeiten, verstärkte seinen Ärger noch. Darwin weigerte sich deshalb, Royers dritte Auflage zu autorisieren, und veranlasste stattdessen eine Neuübersetzung durch einen anderen Autor.

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      Abb. 5: Lausanne in den 1860er-Jahren: die Seepromenade mit dem Hotel Beau Rivage. Gemälde von Rudolf Dickmann.

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      Abb. 6: Blick auf die Weindörfer Pully (im Vordergund) und Cully (im Hintergrund) am Genfersee und die Walliser Alpen. Gemälde von William-Henry Bartlett, 1835.

      Auch nach der Beendigung der Zusammenarbeit blieb Clémence Royer die wohl einflussreichste Vermittlerin von Darwins Theorie in Frankreich. 1869 zogen sie und ihr Gefährte, Pascal Duprat, nach Paris, wo Royer als erste Frau in die Société d’Anthropologie aufgenommen wurde. Es handelte sich um die einzige Gelehrtengesellschaft Frankreichs, die sich ernsthaft mit Darwins Theorie auseinandersetzte. Sie wurde von einer Gruppe radikaler Denker rund um Paul Broca (1824-1880) geleitet. Auch der in Genf ansässige Carl Vogt gehörte ihr an. Nicht zuletzt unter Royers Einfluss akzeptierten die französischen Anthropologen Darwins Lehre allmählich.30 Mit ihrer Übersetzung prägte Royer die Darwin-Rezeption auch in Italien, Spanien und Lateinamerika, wo Französisch die führende Wissenschaftssprache war.31

      MÄNNCHEN UND WEIBCHEN, FRAUEN UND MÄNNER IN DER EVOLUTIONSTHEORIE

      Ein zentrales Problem, das Royer nicht nur mit Darwin, sondern in Frankreich auch mit Broca und allen übrigen Theoretikern in Konflikt brachte, betraf die Frage, welche Rolle im Prozess der Evolution die Weibchen im Tierreich respektive die Frauen bei den Menschen spielen. Diese Frage durchdrang Royers gesamtes philosophisches Werk. Es ist auch diese Frage, die Royer zugleich hoch aktuell und auch problematisch erscheinen lässt.

      Um Royers Position zu verstehen, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts massgeblich zur Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung von Frauen beitrugen. «Der Charakter wissenschaftlicher Männer ist in vieler Hinsicht antifeminin», hielt etwa Darwins Vetter Francis Galton, einer der bedeutendsten Vererbungsforscher seiner Zeit, 1874 fest.32 Im selben Sinn äusserte sich sein Genfer Zeitgenosse Alphonse de Candolle, ein eminenter Botaniker: «Die [geistige] Entwicklung der Frau hört früher auf als jene des Mannes […]. Ausserdem ist der weibliche Geist oberflächlich.»33 Diese weit ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Ansichten erhielten mit Darwins Konzept der «sexuellen Selektion» eine neue wissenschaftliche Grundlage. Mit der sexuellen Selektion erklärte Darwin das Paarungsverhalten tierischer und pflanzlicher Arten. Seine Grundannahme war, dass die Männchen eine aktive Rolle bei der Eroberung der Weibchen sowie im Konkurrenzkampf mit anderen Männchen einnahmen, während die Weibchen eine passive Rolle bei der Begattung sowie eine pflegende Rolle bei der Aufzucht spielten. Dieser Mechanismus habe bewirkt, so Darwin in seinem Werk über die «Abstammung des Menschen», dass sich die Geschlechter körperlich und geistig immer weiter voneinander entfernten: «So wurde der Mann der Frau schliesslich überlegen.»34

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      Abb. 7: Royers Zeitgenossen: Charles Darwin (links), Paul Broca (rechts) und Carl Vogt (unten).

      Dagegen schrieb Royer in origineller Weise an. Sie teilte zwar mit ihren männlichen Zeitgenossen die Ansicht einer «erworbene[n] Unterlegenheit»35 von Frauen gegenüber

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