Die Naturforschenden. Группа авторов

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Von ihren männlichen Zeitgenossen wurde diese allerdings weitgehend ignoriert, weshalb Royer nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit geriet.10 Im 20. Jahrhundert flackerte die Erinnerung an sie zunächst periodisch in feministischen Zeitschriften wieder auf.11 Als sich ab den 1980er-Jahren die Frauen- und Geschlechtergeschichte etablierte, erschienen zwei wissenschaftliche Biografien – eine von der französischen Philosophin Geneviève Fraisse und eine von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey.12

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      Abb. 1: Die Bibliothek in Lausanne um 1900.

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      Abb. 2: Das Titelblatt von Clémence Royers erster Darwin-Übersetzung. Für die zweite französische Auflage von 1866 entfernte Royer auf Geheiss Darwins den Begriff «Fortschritt» im Untertitel. Für die dritte Auflage von 1869 entzog ihr Darwin seine Autorisation.

      Das Hauptanliegen dieser Biografinnen war es, Royers Beiträge zur feministischen Theoriebildung und zur Biologie zu rekonstruieren und zu würdigen. Hier soll ein anderer Aspekt von Royers Denken ins Zentrum gerückt werden, der in der bisherigen Literatur zwar nicht ignoriert, jedoch nur am Rand behandelt wurde: der Rassismus. Dieser war sowohl für ihren Feminismus als auch für die von ihr mitgeprägte Darwin-Rezeption elementar.13 Zugleich lassen sich Einblicke in die Rolle der Schweiz als Drehscheibe zwischen den französischen, deutschen und englischen Wissenschaftsgemeinschaften gewinnen. Zentrale und bis heute einflussreiche Theorien des 19. Jahrhunderts wurden über die Schweiz ausgetauscht. Es handelt sich um Theorien der Evolution, der Rassen und der Geschlechter.

      WESHALB ROYER?

      Royers Weg zur Darwin-Übersetzerin war alles andere als geradlinig.14 Sie kam 1830 in Nantes zur Welt. Ihr Vater war Offizier und unterstützte die französische Monarchie. Royers Mutter stammte ebenfalls aus einer Offiziersfamilie. 1832 flohen die Royers in die Schweiz, da der Vater für seine Unterstützung der antirevolutionären Kräfte zum Tod verurteilt worden war. Die Familie liess sich für drei Jahre am Genfersee nieder. 1835 kehrte sie nach Paris zurück. Der Vater wurde vor Gericht begnadigt. Später zog die Familie in die Provinz, wo die junge Clémence ein katholisches Internat besuchte. Die Erfahrung scheint traumatisch gewesen zu sein. Royer bezeichnete sie später als intellektuelle «Vergewaltigung», was ihre späteren scharfen antireligiösen Attacken erklärt.15 Die Emanzipation von der katholischen Indoktrination erfolgte schrittweise. Während der 1848er-Revolution lebte Royer wieder in Paris, was ihren Wandel zur Republikanerin eingeleitet habe. Sie machte eine Ausbildung zur Lehrerin. Zwischen 1853 und 1855 unterrichtete sie in Grossbritannien Französisch und Musik. Zugleich lernte sie Englisch, was ihr später als Darwin-Übersetzerin zugute kommen sollte. Kaum nach Paris zurückgekehrt, erlebte Royer jedoch, wie die neue, konservative französische Regierung Gesetze gegen die Mädchen- und Lehrerinnenbildung erliess. Royer sah ihre Berufsaussichten schwinden. «Wie eine zweite Jeanne d’Arc, […] jedoch nur mit einer Schreibfeder bewaffnet, verliess ich Frankreich, der katholischen Kirche den Krieg erklärend», schrieb sie Jahre später im Rückblick auf ihr Leben.16 Sie liess sich ab Sommer 1856 zunächst im protestantischen Lausanne nieder, zog wenig später jedoch in das etwa zehn Kilometer weiter östlich gelegene Dorf Cully.

      In einem kleinen Bauernhaus mietete sie ein acht Quadratmeter grosses Zimmer. In dieser Kammer, hoch über dem Genfersee gelegen, begann schliesslich «die heroische Phase meines Lebens», hielt sie rückblickend fest: «Mein Leben erfuhr eine schicksalhafte Wendung. Ermöglicht wurde sie durch meine Begegnung mit der Bibliothek in Lausanne.»17

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      Abb. 3: Cully heute: In diesem Bauernhaus lebte Royer zwischen 1856 und 1859. Die Plakette unter dem Fenster ihrer damaligen Kammer wurde 1912 von der Waadtländer Freidenkervereinigung zu Royers zehntem Todestag angebracht. Auf ihr heisst es: «In Erinnerung an Clémence Royer 1856. Hier erwachte ihr Genie.»

      EIN STRAUSS BLUMEN AUS DER WIESE DES WISSENS

      Die Bibliothek in Lausanne gehörte zur Akademie, der späteren Universität, und war sehr gut bestückt. Royer las sich während rund dreier Jahre systematisch in die wichtigsten sozial- und naturwissenschaftlichen Theorien ihrer Zeit ein. Die Bücher liess sie sich per Post nach Cully schicken. Manchmal legte sie den elf Kilometer langen Weg auch zu Fuss zurück. Was die wissenschaftliche Lektüre für Frauen des 19. Jahrhunderts bedeuten konnte, reflektierte Royer 1859:

      «Es gibt mehr als zehntausend Wörter, die Frauen niemals ausgesprochen gehört haben, deren Bedeutung sie nicht kennen. […] Auch ich selber war eine Zeit lang stark eingeschüchtert von der Wissenschaft. Ich fand sie langweilig und fad […] und glaubte, sie sei nutzlos. Es reichten jedoch einige anständig geschriebene Seiten, einige glückliche Erklärungen aus der Feder einiger weise gebildeter Personen, die die Nacht meines Geistes wie ein Blitz erhellten. Da wurde mir gewahr, dass die Männer der Wissenschaft ihr Wissen mit einem Hag voller Dornen umzäunt hatten. Auf der anderen Seite des Zauns ist dieser Garten jedoch voller Blumen. Also entschied ich, ein Loch in diesen Zaun zu hauen oder, falls nötig, über ihn hinüber zu springen.»18

      Die Passage stammt aus einer der ersten öffentlichen Vorlesungen, die Clémence Royer ab 1859 in der Akademie in Lausanne für Frauen hielt. In der zitierten Gartenmetapher erklärte Royer ihren Zuhörerinnen: «Ich betrat die Wiese und pflückte einen Blumenstrauss. Diesen Strauss offeriere ich Ihnen heute.»19

      Eine von Royers Zuhörerinnen war, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, Marie Forel, eine gebildete Frau aus der Familie bekannter Westschweizer Naturwissenschaftler. Forel führte einen Salon, in dem die gebildeten Eliten der Stadt verkehrten. Dazu gehörten etliche republikanische Exilanten aus Frankreich, die an der Lausanner Akademie lehrten. Einer davon war der politische Ökonom Pascal Duprat (1815-1885), der Clémence Royers grosse Liebe werden sollte. Duprat war bereits verheiratet, lebte jedoch ab den frühen 1860er-Jahren bis zu seinem Tod 1885 mit Clémence Royer und einem gemeinsamen Sohn in wilder Ehe. Bereits ab 1858 begann Royer in der von Duprat herausgegebenen Zeitschrift «Le Nouvel Economiste» Rezensionen und später Artikel zu schreiben. 1860 schrieb der Kanton Waadt in Zusammenarbeit mit Duprats Zeitschrift einen Preis aus. Zu behandeln war die Frage, wie die Einkommenssteuer reformiert werden könne. Royers Arbeit erhielt den zweiten Preis und wurde als Buch publiziert. Damit wurde Royer international bekannt. Sie erhielt Einladungen zu wissenschaftlichen Konferenzen sowie zu Vorträgen in weiteren Städten in der Schweiz, in Frankreich und in Italien.20

      «… ONE OF THE CLEVEREST AND ODDEST WOMEN IN EUROPE …»

      Von Darwins «Origin of Species» dürfte Royer, wie ihre Biografin Joy Harvey vermutet, erstmals 1860 in Genf gehört haben, wohin sie Duprat begleitet hatte und wo sie Vorlesungen hielt. Im Unterschied zu den Pariser Naturwissenschaftlern reagierten die westschweizerischen relativ positiv auf das Werk des Engländers.21 Allen voran der deutsche Emigrant Carl Vogt (1789-1861). Der spätere Gründungsrektor der Universität Genf und Genfer Vertreter im schweizerischen Ständerat wurde zu einem der radikalsten Befürworter des Darwinismus.22 Wie genau Royer zur Übersetzerin Darwins wurde, ist nicht völlig klar. Bekannt ist, dass Darwin familiäre Verbindungen nach Genf hatte. Möglicherweise kam ihr Name auf diese Weise ins Spiel. Darwin hatte sich bis dahin vergeblich bei französischen Freunden um eine Übersetzung bemüht. Für Royer sprachen nicht nur ihre Englischkenntnisse, sondern auch der Umstand, dass sie einen französischen Verleger hatte, der bereits ihr Buch über die Einkommenssteuer publiziert hatte und bereit war, die Übersetzung herauszugeben. Ausserdem hatte sie nicht nur die naturwissenschaftlichen Referenzwerke

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