Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz. Christoph Heizler
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Dass Beten von Entzogenheit geprägt ist, das gilt zunächst für den betenden Menschen selbst, der im Vollzug des betenden Grundaktes seiner Existenz danach sucht, wie er sich selbst verstehen kann. Erst recht gilt das für Außenstehende, zumal wo diese zeitversetzt dem betenden Ereignis im Leben eines anderen Menschen nahe treten wollen. Beten zeigt sich dem Denken somit nur indirekt und zeitversetzt in den sichtbaren Formen, die dessen leib-seelische Folgen sind: es erscheint im Modus des „Vorübergegangenen“. Diese Differenz bleibt stets zu beachten, nämlich zwischen einem im Ganzen radikal entzogenen Geschehen und dessen Manifestationen im Sichtbaren. Diese Differenz zu sehen, das ist für die Erkundung des Betens im Leben der Edith Stein aufschlussreich und kann vor Fehldeutungen bewahren.
Denn die sichtbaren Manifestationen sind einer empirischen Untersuchung und systematisierenden Deutung ihrer situierbaren Verlaufsformen umfassend zugänglich, das innere Gebetsgeschehen selbst jedoch nicht. Wo aber klar ist, dass die sichtbaren Äußerungen und das, was sich als geronnene Konsequenz des bereits geschehenden Vollzugs vernehmbar macht, nicht zu verwechseln sind mit dem persönlichen Begegnungsgeschehen in der Tiefe der menschlichen Psyche, dort öffnet sich der Blick dafür, dass ein und das selbe innerseelische Geschehen bei einem Menschen an biographisch verschiedenen Stationen höchst Unterschiedliches hervorbringen kann. Dann wäre es möglich, im geschichtlich Hochvariablen der Gebetsform und -häufigkeit ein Überdauerndes zu postulieren, das sich in je geschichtlich neuer Weise aktualisieren kann, ja sogar muss, da der Mensch sich je und je wandelt, ohne dabei an innerer Kontinuität verlieren zu müssen. Vielmehr wäre ein Wandel in der Ausdrucksform und eine Vielgestalt in jeweiligen Konkretisierungen betenden Geschehens zu werten als Moment an der Lebendigkeit des sich Zutragenden. Was sich je unterschiedlich am Beten erkennen lässt, das wäre zu verstehen als Entfaltung eines Organischen, von Gestaltwandel und Wachstum Geprägten. Vor dem Hintergrund des Gesagten wird eine dritte Annäherung an das, was mit ‚Beten‘ bedeutet wird, möglich. Diese Annäherung greift den geschichtlichen, relationalen Charakter des Gebetsgeschehens auf und entfaltet ihn als Ausdruck der Existenz des Menschen in seiner gottgegründeten und -orientierten Bezogenheit auf das Mehr- als-Menschliche im Kontext mit anderen. Beten erscheint darin als ein mit Relevanz erfülltes Geschehen, das andere ursprünglich zu berühren vermag, wo ihnen diese religiöse Praxis begegnet.
4.1.4 Dritte Annäherung: Verweischarakter der sichtbaren Seite als Spur
Wo sich einem Menschen das Gebetsgeschehen im eigenen oder fremden Leben von seiner Außenseite sichtbar zeigt und vor Augen stellt, dort bringt diese Erscheinung etwas nahe, was den Charakter einer Spur und eines mit Bedeutung gefüllten Verweises erkennen lässt. Der Beobachter eines betenden Menschen kann aus diesem Grunde im Prozess der Wahrnehmung keineswegs ein neutraler Betrachter bleiben, der gleichsam hinter der Glasplatte der distanzierten Erkenntnisbemühung unberührt bleiben könnte angesichts des existentiellen Geschehens, das bei einem anderen Menschen zu Gesicht bekommt. Vielmehr ist das Gegenteil davon eines der wesentlichen Charakteristika des betenden Grundaktes – dass es den Beobachter dieses Ereignisses zu einer sehr speziellen Form von Nähe führt, bei dem er selbst und sein Menschsein unvermeidbar mit in das Geschehen hineinragt, dessen er inne wird. Das berühmte Diktum Ludwig Wittgensteins „Gott kannst Du nicht zu einem anderen reden hören, sondern nur wenn Du der Angeredete bist“246, bringt die Konsequenz zum Ausdruck, die in dieser evozierenden Dynamik des Betens liegt. Es ist die Konsequenz, dass der Betrachter selbst von dem Geschehen angegangen ist, dessen er zunächst scheinbar nur neutraler Zeuge wird. Wo der Betrachter dann jedoch im anderen betenden Menschen (oder auch nachträglich seinen eigenen Gebetsmomenten) seine eigene Möglichkeit sieht, zu der er sich unvermeidbar selbst verhalten muss, da wird ein Prozess sichtbar, der den Betrachter in eine unabschließbare Begegnung mit dem Phänomen Gebet ‚hineinruft‘, die seine Freiheit gleichermaßen evoziert wie involviert. So könnte man sagen, dass die Gebetsmanifestationen gerade keine neutralen Vorfindlichkeiten sind, sondern vielmehr Ausdruck einer mit Relevanz berührenden Wirklichkeit, die werbend und zur Entscheidung drängend nahe tritt. Wo betendes Menschsein begegnet, da evoziert es in der Betrachterin und dem Betrachter die Frage, wie sie oder er selbst sich dem gegenüber verhalten soll. Warum ist dem so? Vorausblickend sei darauf hingewiesen, dass diese innere Virulenz betenden Menschseins, wo man den metaphysischen Verstehenszugängen Edith Steins folgen mag, darin gründet, dass erkannte und gelebte Wahrheit („verum“ et „bonum“) eine starke Ausstrahlung entfaltet, die man in einem grundlegenden Sinne als Attraktion mit ästhetischer Tiefe begreifen kann. Diese Attraktion ist ein Affiziertsein von einem „splendor“, einem Glanz247, der ins Auge fällt als „pulchrum“.248 Wo dem Betrachter angesichts eines anderen betenden Menschen etwas von dieser Wahrheit einleuchtet, dort ist er von ihr zumindest angezogen und affiziert, auch wenn diese geistliche Radiation momentan ohne sichtbare Konsequenzen bleiben kann. Dass es gleichwohl werbenden Charakter hat, wo betendes Geschehen ins Blickfeld rückt, das liegt unabhängig von einer religiösen Begründung im engeren Sinne daran, dass jedwede erkannte Wirklichkeit anziehenden Charakter249 hat und das erkennende Subjekt „fasziniert“, insofern es sich als vom Gegenüber des Erkennens zu weiterer Erkenntnis eingeladen erfährt.250 Auf diese Dimension aller begegnenden Wirklichkeit als Gabe251, deren Gestalt sich dem Menschen offenbart, hat Hans Urs von Balthasar mit Rückgriff auf den Gestaltbegriff Goethes hingewiesen.252 Da im Abschnitt 4.2. über den Gestaltbegriff davon noch ausführlicher die Rede ist, sei hier nur vorblickend darauf verwiesen.
4.1.5 Statt einer Definition: Deskription eines Grundaktes menschlicher Freiheit
Angesichts der beschriebenen Transzendenz der beiden im betenden Geschehen involvierten Begegnungspartner und angesichts des beständig fortschreitenden, nur zum Teil sich sichtbar manifestierenden Geschehens, ist eine abschließend und vorwegnehmend-umfassende Definition dessen, was ‚Beten‘ in Summe beinhaltet, nicht angestrebt. Stattdessen wird im Folgenden als Horizont der angestrebten Sichtung von einer personalen, für Alterität und Diachronie sensiblen Begegnung zwischen Mensch und in besonderer Weise personal verstandenem göttlichem Gegenüber ausgegangen, die sich im Raum der Sprache im weitesten Sinne entfaltet und als Freiheitsgeschehen253 vollzieht. Jedes einzelne Gebet ist in dieser Perspektive eine Aktualisierung des Grund-Verhältnisses, in dem der aus Gnade zur Freiheit freigesetzte254 und berufene Mensch sich dem gründenden Grund seiner Autonomie bewusst zuwendet, diesen darin als „Du“ anspricht, und darin den Grund als personales Gegenüber erfährt.255 Beten erscheint so als „Grundakt“ des Menschen, das ein basales Verdanktsein anerkennt und daraus lebt.256
Die oben konturierte Arbeitshypothese ist als Rahmen für eine beschreibende Annäherung an das Vollzugsganze des Betens erkennbar nicht voraussetzungslos und nicht ohne inhaltliche Bestimmung. Aber sie ist in ihrer Weite der Autorin Edith Stein angemessen und geeignet, ihrer Diktion mit Blick auf das Gebet entsprechen zu können, was nachstehend belegt werden soll. Die Möglichkeit, das religiöse Geschehen als besonderes, dialogisches Sprachgeschehen zu verstehen, ist im jüdisch-christlichen Kontext angelegt, dem Edith Stein und ihr Beten zugehörten. Diese vom sprachlichen Charakter257 ausgehende Sicht auf das Gebet ist von daher geeignet, als erster Ausgangspunkt für einen verstehenden Zugang zur ihrem Gebetsleben zu fungieren. Dabei umfasst „Sprache“ all das, was sich an Kommunikationsgeschehen auf allen Ebenen zuträgt. Schweigen und Stille sind Teil davon, ebenso wie das ganze Spektrum nonverbaler Sprache258 im Sinne von Gebärden und körperlich-leiblichen, raum-zeitlich und sozial interagierenden Ausdrucksformen.259 Mit Sprache als einem Existential des Menschen ist zugleich angedeutet, dass Beten in einem existentiellen Horizont gesehen und vor diesem Hintergrund beschrieben werden soll als Artikulation seiner gesamten Lebensvollzüge.
Von daher ist der Gebrauch der Worte „Beten“ und „Gebet“ im Verlauf meiner Studie betont deskriptiv zu verstehen und in diesem Sinne in formaler Weise. Beide Worte mögen von daher als Anzeiger verstanden werden für den Versuch einer beschreibenden Explikation dessen, was dem Menschen im Grundakt des Betens geschieht,