Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl
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Das Wort ›Resonanz‹ ist gut gewählt, weil es Senden und Empfangen, das Aktive und das Passive, Sprechen und Hören, Subjekte und Objekte, ich und die Anderen nicht trennt. Allen Dichotomien geht mit der Resonanz etwas voraus, was noch nicht geschieden ist, die Dichotomien aber beeinflusst. Die Relation bestimmt die Relata. Die fühlbaren, hörbaren und sichtbaren Beziehungen kommen vor dem eigenen Tun. Das ist beim Antworten offensichtlicher als beim Fragen und Sprechen, trifft aber auf beides zu. Auch die Sittlichkeit ist eine Beziehung vor dem eigenen Tun und Lassen. Das Tun und Lassen ist dann aber unausweichlich. Wir sind gefordert und aufgerufen, uns erkennbar zu machen. Die Sittlichkeit vereinzelt uns. Wir werden zu Handelnden. Die Resonanz unseres Handelns müssen wir dann verantworten und für uns selbst einstehen.
Über die Resonanz wirkt die Sorge im moralischen Raum unseres Lebens. Ob etwas aus allgemein geltenden Gründen und nicht nur aus sittlicher Gewohnheit zu tun ist, und ob etwas gegen schlechte Sitten getan werden soll, ist von der Sorge um das gute Leben bestimmt. Es geht um das gute Leben zu Hause und mit Menschen aus anderen Kulturen. Diese Sorge findet ihren Ausdruck in der gelebten Sittlichkeit. Thematisch wird die Sittlichkeit in der Ethik. Die Sorge wirkt damit über die Sittlichkeit in eine Ethik, weil es die Ethik nicht gibt.
Wir suchen nach einer Ethik, mit der wir unser Dasein gestalten können. Wenn uns nicht schon aus sittlichem Empfinden klar ist, was wir tun sollen, kann uns eine Ethik helfen, das, was wir sollen, zu begründen. Die nächste Frage ist aber, mit welcher Ethik dies gelingt. Die Lösung liegt nicht auf der Hand, weil keine Ethik so selbstverständlich wie eine Sitte gilt. Eine Ethik kann außerdem vielen Sitten widersprechen. Schließlich erheben viele Ethiken den Anspruch, allgemein, unabhängig von kulturellen Grenzen, zu gelten. Die Sorge um das Leben mit Menschen aus anderen Kulturen, die mit anderen Sitten leben, ist ein Gebot der Sittlichkeit, aber noch keine Ethik. Jene Sorge ist aber ein Motiv, die Gegensätze zwischen Sitten und Kulturen zu überbrücken, zumindest aber zu entschärfen und ihnen ihr gewalttätiges, lebensbedrohliches Potential zu nehmen.
Die Konflikte zwischen Sitten unterschiedlicher Kulturen legen nahe, dass eine gute Ethik hilft, regional geltende Sitten zu überwinden und zu ersetzen. Theoretisch ist dies einfach, praktisch nicht. Die Resonanz der sittlichen Beziehungen existiert vor jeder Ethik. Diese Resonanz kann in eine Ethik überführt und in ihr verstärkt, aber durch keine Ethik aufgehoben werden. Wir müssen den Resonanzraum der Sittlichkeit auch ethisch respektieren. Es wäre ungerecht, wenn wir uns ethisch zu Richtern über die Sittlichkeit anderer Kulturen machen würden. Dafür haben wir keine ethische Lizenz. Wir bilden unser sittliches Bewusstsein ja selbst zuerst in unserer eigenen Kultur. Wir lernen dabei, was sich gehört, und entwickeln ein Gefühl für das, was gilt. Ohne dieses sittliche Gefühl wüssten wir nicht, was es bedeutet, dass wir etwas tun oder lassen sollten, was gut oder schlecht ist. Dieses Gefühl ist etwas, was keine Ethik vermitteln kann. Wenn wir unser eigenes sittliches Gefühl schätzen, sollten wir dies auch Menschen anderer Kulturen zubilligen und nicht über sie richten.
Wir können uns das Verhältnis zwischen Sitte und Ethik am Verhältnis zwischen Dialekt und Fremdsprache klar machen. Die Sitten, für die wir ein Bewusstsein bilden, lernen wir wie unsere erste Sprache. Wir lernen erst einen Dialekt, dann die Hochsprache, zu der er gehört. Die sittliche Hochsprache ist die Sittlichkeit. Zu ihr gehören die Sitten, die wir zu Hause, aber besonders im Religions- und Schulunterricht kennenlernen. Verglichen damit ist jede Ethik eine Fremdsprache, die wir ebenfalls erlernen können. Wir können sie aber nur erlernen, wenn wir vorher schon sprechen können, also schon einen Dialekt (Sitte) und eine Hochsprache (Sittlichkeit) kennen. Außerdem können wir eine Fremdsprache nur erlernen, wenn wir wissen, was eine Grammatik ist. Die Grammatik, die wir für eine Ethik benötigen, enthält viele Begriffe, u. a. des Guten, des Sollens, der Pflicht, der Verantwortung und des Zusammenhangs zwischen ihnen. Jede Grammatik ist eine begrifflich anspruchsvolle, abstrakte Angelegenheit, die uns einiges abverlangt und viel Wissen voraussetzt. Wir müssen wissen, was ein ethisches Prinzip von einem Gebot unterscheidet und wie das eine vom anderen abhängt. All das benötigen wir nicht für das sittliche Bewusstsein, das wir als Erstes erwerben.
Keine Grammatik vermittelt die sprachlichen Grundlagen, die wir benötigen, um sie zu verstehen. Genauso verhält es sich mit jeder Ethik. Keine Ethik vermittelt das sittliche Bewusstsein für unser Verständnis all der Begriffe und ihrer Zusammenhänge, die in ihr eine Rolle spielen. Der Ethikunterricht in der Schule kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Schüler schon ein sittliches Bewusstsein für das haben, was sich gehört. Wir erwerben keine Ethik ohne sittliches Bewusstsein, ähnlich wie wir keine Fremdsprache ohne unsere Sprachfähigkeit erwerben können. Eine Ethik kann fehlendes sittliches Bewusstsein nicht ersetzen. Ein guter Ethikunterricht nimmt darauf Rücksicht und ignoriert oder verurteilt nicht das bis dahin erworbene sittliche Bewusstsein der Jugendlichen. Selbst wenn es das Ziel des Unterrichts ist, schlechte Sitten zu überwinden, sollte der Unterricht bei den guten Sitten beginnen und sie vertiefen. Es wäre ähnlich unsinnig, wenn mit dem Erwerb einer Fremdsprache die Muttersprache oder der heimische Dialekt ignoriert oder verurteilt würden. Beides wird leider häufig getan.
Die Rückbindung des Ethikunterrichts an die Sittlichkeit ist unverzichtbar, weil die guten Sitten die Wurzeln und Grundlagen des sittlichen Bewusstseins sind, ohne die keine gute Ethik gelten kann. Es gibt auch schlechte Ethiken. Sie sind daran erkennbar, dass sie die Sittlichkeit und das gute sittliche Empfinden verletzen und dem sittlichen Bewusstsein der Menschen widersprechen. Eine Ethik, die dem Egoismus und dem Selbstinteresse des Einzelnen einen Vorrang vor allen anderen Interessen einräumt, wird dem guten sittlichen Bewusstsein vieler, vielleicht der meisten Menschen widersprechen. Ähnliches gilt für eine Ethik der Vergeltung, welche die Grausamkeit gegen Straftäter zur Abschreckung vor künftigen Straftaten bis hin zur Folter rechtfertigt. Der Schritt von der Anwendung der Ethik der Vergeltung auf Andersdenkende für ihr Anderssein ist nicht groß. Eine Ethik des Egoismus toleriert auch das grausame Töten von Tieren. Und auch dies widerspricht dem guten sittlichen Bewusstsein vieler, vielleicht der meisten Menschen.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der Ethikunterricht in den Schulen in unserer Zeit schlechte Ethiken vermittelt. Es gab rassistische und fremdenfeindliche Ethiken in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Sie existieren auch heute in vielerlei Gestalt im Alltag, in der Wirtschafts- und Arbeitswelt vieler Gesellschaften. Wenn ihnen Jugendliche begegnen, deren sittliches Bewusstsein davor durch Hilfsbereitschaft, die Achtung vor der Person des Anderen und Fremden, die Sorge für sich und die anderen geprägt war, werden sie nicht mehr wissen, was nun eigentlich gilt. Eine Ethik des Egoismus kann nahtlos an das ebenfalls in vielen Gesellschaften vorhandene schlechte sittliche Bewusstsein anknüpfen. Keine Gesellschaft ist ohne Unsitten und Amoral. Die Irritation, die der Gegensatz zwischen einer schlechten Ethik und den guten Sitten auslöst, kann den Glauben an die Geltung der Sittlichkeit und einer guten Ethik untergraben. Dann fehlt einer guten Ethik ihre Geltungsgrundlage. Sie hat dann keine Wurzeln und ist auch nicht zuverlässig wirksam. Wenn der Ethikunterricht in Schulen nicht an eine geltende Sittlichkeit anschließen kann, ist er unwirksam. Es fehlt ihm die Grundlage einer guten Ethik, nämlich die Einsicht in das, was sich gehört.
Eine gute, an der Würde des Menschen und den Menschenrechten orientierte Ethik kann aber auch das zu Hause erworbene sittliche Bewusstsein verletzen, wenn dies von Verachtung und Gewalt gegen Andersdenkende und Frauen und von Rache gegen diejenigen, welche die eigene Ehre verletzt haben, geprägt ist. Opfer dieser Rache aus verletzter Ehre können die eigenen Verwandten auf grausame Weise werden. Es sind in vielen bekannt gewordenen Fällen Frauen, die ihren eigenen Weg gehen und sich nicht den Sitten ihrer Ethnie, ihrer Verwandten und ihres Clans unterwerfen wollten.
Die Bildung der Sittlichkeit in der Schule ist angesichts eines solchen archaischen sittlichen Bewusstseins durch die abstrakten Angebote des Ethikunterrichts schwer möglich, aber nicht unmöglich. Die Teilnehmer des Unterrichts werden für die Bildung ihres sittlichen