Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl
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Hegels Konzept der Sittlichkeit schließt, wie erwähnt, kulturelle Differenzen und Konflikte nicht ein, aber auch nicht aus. Er versteht ›Sittlichkeit‹ als Wirksamkeit des kulturell geprägten Bewusstseins von Menschen, aber nicht dynamisch. Dabei sollte dieses Bewusstsein immer wieder neue Gestalten annehmen können. Dies ist aber in Hegels hierarchischem System von Recht, Moralität und Sittlichkeit kaum möglich. Warum dies nicht möglich ist, wird in Hegels Überlegungen zum menschlichen Handeln erkennbar. Unter der Überschrift »Der wahre Geist. Die Sittlichkeit« (291) erklärt er in der Phänomenologie des Geistes, was er unter ›Handeln‹ versteht. Pirmin Stekeler nimmt in seinem Kommentar zu diesem Kapitel das wieder auf, was er bereits zum ›Geist‹ sagt. Der Geist, der sich im Handeln zeigt, sei »das Bewusstsein … im Unterscheiden, Urteilen, Schließen und Handeln« (Bd. 2, 140). Dieser Anspruch an die Sittlichkeit setzt einen idealen Maßstab voraus, der in den moralischen und kulturellen Räumen unserer gegenwärtigen Welt nicht erfüllt ist. Wie hoch dieser Anspruch ist, wird erkennbar, wenn Pirmin Stekeler vom »kontrollierenden Mitwissen« im Urteilen spricht.
Die kulturell, aber auch rechtlich und religiös geprägten Formen der Sittlichkeit unserer Lebenswelten erfüllen diesen kognitiven Anspruch kaum. Menschen folgen in ihrem Verhalten häufig blind und adaptiv dem, was üblich ist, aber auch dem, wozu sie durch geltende Regeln und Normen verpflichtet sind. Menschen zu bestimmtem Verhalten zu verpflichten oder gar zu zwingen kann unausweichlich sein, wenn sie uneinsichtig sind und andere durch ihr Verhalten gefährden würden. Die Straßenverkehrsordnung, aber auch der Schutz vor Seuchen sind Beispiele für begründeten Zwang. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zum Schutz vor Seuchen und die Regelung der Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit gelten unabhängig von der Zustimmung und Einsicht der Menschen.
Es ist leicht erkennbar, dass viele kulturell geprägten Formen der Sittlichkeit ungeeignet für Kategorische Imperative sind. Die moralische Selbstbestimmung Kants kennt nur den Selbstzwang im Anschluss an die Prüfung von Maximen auf ihre Eignung als kategorisch geltende Imperative. Selbst das, was wir ›gute Sitten‹ nennen und der Sittlichkeit zurechnen, eignet sich nicht ohne weiteres als Imperativ dieser Art. Nehmen wir als Beispiel die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit. Diese guten Sitten können nicht ohne anspruchsvolle Voraussetzungen zu Pflichten werden. Wer hilfsbereit und großzügig sein will, benötigt dafür einige Mittel. Arme und Hilfsbedürftige können anderen nicht helfen. Sie können vielleicht das Wenige, das sie haben, teilen und sich als großherzig erweisen. Wirklich großzügig können nur Menschen sein, die anderen etwas von dem abgeben wollen und können, was sie über den eigenen Bedarf hinaus besitzen und worauf sie verzichten. Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit können Kategorische Imperative werden, wenn sie die Bedingungen enthalten, unter denen sie sich verallgemeinern lassen. Jeder kann Opfer mangelnder Hilfsbereitschaft werden. Jeder kann alles verlieren, was ihm erlaubte, großzügig zu sein. Die menschliche Sittlichkeit kann kaum durch Kategorische Imperative geprägt werden.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel der von Aristoteles hoch geschätzten Tugend der Freundschaft. Die Befähigung zur Freundschaft schließt Hilfsbereitschaft, Zuneigung, Verständnis, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Aufrichtigkeit ein. Freunde kann es nur wenige geben, und es gibt sie in moralischen Räumen nur in der Nähe. Es ist sogar so, dass die Nähe durch die Freundschaft bestimmt wird und nicht umgekehrt die Freundschaft durch die Nähe. Deswegen können wir weit entfernt lebenden Freunden nahe sein. Die Tugend der Freundschaft könnten wir nur dann als Kategorischen Imperativ formulieren, wenn wir alle eben genannten Merkmale als Bedingungen in die Forderungen des Imperativs integrieren könnten. Das entscheidende Merkmal der Zuneigung können wir aber mit keinem Imperativ verbindlich machen. Zuneigung kann ähnlich wie die Liebe niemandem zur Pflicht gemacht werden. Das zum Dekalog gehörende und von Jesus wiederholte Gebot ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ würde dem widersprechen, wenn das ›wie dich selbst‹ nicht der Vergleichsmaßstab wäre. Der Vergleichsmaßstab macht das Liebesgebot nicht zu einer absolut geltenden Liebespflicht, sondern zum Appell, zu versuchen, den anderen wie sich selbst zu lieben. Dies gelingt nicht immer. Dass das christliche Liebesgebot auch Feinde einschließt, macht aus dem Appell eine Zumutung.
Die Maximen der Sittlichkeit gelten, ohne dass sie ethisch theoretisch begründet werden könnten. Sie sind selbst unbegründete Grundlagen der Moral, unabhängig davon, ob sie sich für Kategorische Imperative eignen. Selbst wenn sie sich dafür eignen, wird ihre Geltung lediglich durch ihre Allgemeingültigkeit bestätigt. Sie werden aber nicht begründet. Für die guten Sitten gibt es keine Begründungen. Sie sind wünschenswert und verdienen Anerkennung unabhängig von Begründungen. Es kommt darauf an, sich von ihnen überzeugen zu lassen. Noch mehr kommt es darauf an, ihnen folgen zu wollen.
Die Sitten, die wir der Sittlichkeit zurechnen, gibt es in den kulturellen Räumen mit ihrer jeweiligen Geschichte. Sie gelten nicht raum- und zeitlos, sondern wandeln sich mit den Mentalitäten. Sitten wie Redlichkeit, Rechtschaffenheit und Vaterlandsliebe sind in den Augen vieler verstaubt. Die Vaterlandsliebe ist von ihrem Missbrauch und ihrer Manipulierbarkeit in unserer jüngeren Geschichte belastet und kann nicht ohne Erinnerung daran zu unserer Sittlichkeit gehören. Der abstrakte und emotional blasse Verfassungspatriotismus mag an ihre Stelle treten. Redlichkeit und Rechtschaffenheit haben als Ehrlichkeit, Gradlinigkeit und Zuverlässigkeit noch immer die Bedeutung, die sie hatten. Ob sie noch über das frömmelnde Bekenntnis zu ihnen hinaus ernst genommen werden, ist unklar.
Unsere sittlichen Gefühle können von Verhaltensweisen bestätigt, gefördert oder verletzt und in Frage gestellt werden. Ein Forum dieser Gefühle ist das Gewissen. Es regt sich, wenn wir selbst etwas tun, was fragwürdig oder schlecht ist. Ein gutes Gewissen gibt es nur im Volksmund, aber nicht wirklich. Heidegger hat wohl recht: Es gibt nur das schlechte Gewissen, das Alarm schlägt. Er spricht vom Ruf des Gewissens als Aufruf zum Schuldigsein (Sein und Zeit, 269). Wir sind oft unsicher, ob das, was wir getan haben, gut oder schlecht ist, und diese Unsicherheit äußert sich als Gewissen. Eine Klärung unserer Unsicherheit kann das Gewissen nicht leisten. Da unsere sittlichen Gefühle wandelbar sind, ist auch unser Gewissen wandelbar. Das Gewissen und die sittlichen Gefühle werden in der Erziehung entwickelt. In Räumen mit schlechten Sitten können sich das Gewissen und gute sittliche Gefühle aber kaum entwickeln. Sie werden eher unterdrückt und pervertiert. Deswegen sind das Gewissen und die sittlichen Gefühle nicht nur wandelbar, sondern auch nicht zuverlässig. Wenn sich das Gewissen nicht regt, ist dies noch kein Nachweis dafür, dass alles gut ist. Wir Menschen können uns durch Anpassung leicht angewöhnen, Schlechtes und Verwerfliches gewissenhaft und zuverlässig zu tun. Deswegen dürfen wir unserem Gewissen und unseren sittlichen Gefühlen nicht blind vertrauen.
Da ich Kant als ethischen Ratgeber nannte, wäre es unaufrichtig, wenn ich nicht darauf hinweisen würde, dass er dem Gewissen als »innerer Stimme« ohne Wenn und Aber vertraut. Dabei fällt ihm dies nicht leicht, weil das Gewissen im Rahmen der moralischen Autonomie zwar Richter und Angeklagte sein sollte, dies aber nicht gleichzeitig sein kann. Thomas Oehl zeigt, dass Kant der Aporie entgehen kann, wenn der Mensch nach der Tat auf unterscheidbare Weise im Gewissen dem eigenen, autonomen Urteil und getrennt davon dem externen göttlichen Urteil gerecht wird (»Gott als Richter?«). Der Erfolg dieser Rettung des Gewissens hängt davon ab, wie Kant ›Gott‹ versteht. Die moraltheologische Rettung des Gewissens kann theoretisch gelingen, schützt das Gewissen in einer amoralischen Praxis aber nicht vor Irrtum und Verfall.