Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl

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Ethik und ihre Grenzen - Wilhelm Vossenkuhl Blaue Reihe

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und sittliche Gefühle sind nicht nur eng mit der Lebensstimmung der Sorge verbunden, sondern von ihr abhängig. In der Einleitung wies ich darauf hin, dass die Sorge nicht nur eine helle, das Leben bewahrende und schützende, sondern auch eine dunkle, das Leben gefährdende Seite haben kann. Entscheidend ist das Maß der Sorge. Zu wenig ist ebenso gefährdend wie zu viel. Zwischen sorglos und ängstlich müssen wir das rechte Maß der Sorge finden, weil das sittliche Leben vom rechten Maß der Sorge abhängig ist. Die Sorglosigkeit kann verantwortungslos, und die übermäßige Ängstlichkeit kann erdrückend sein. Beides gefährdet die Sittlichkeit.

      Das Verständnis der ›Sorge‹ hat eine literarische Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte, auf die ich kurz eingehe, verändert ihre Bedeutung aber nicht. Wenn von ›Sorge‹ die Rede ist, denken Philosophen weniger an Goethe, sondern eher an Heidegger. Das ist nicht ganz gerecht, weil Heidegger selbst, vermittelt durch Konrad Burdachs Studie Faust und die Sorge (1923), zuerst an Goethe dachte und sich dann die Sorge für sein eigenes Denken aneignete. Genauer nachlesen können wir dies bei Sebastian Kaufmann (Heidegger liest Goethe, 2019, 21). Die Anregung durch Goethe ist in Heideggers Gedanken zur Sorge nur noch indirekt und vage erkennbar. Ich gehe auf seine Gedanken ein, obwohl sie den Zusammenhang zwischen der Sorge und der Sittlichkeit nicht unmittelbar berühren.

      Heidegger sagt in Sein und Zeit über die Sorge, sie sei ein Werden zu dem, was der Mensch sein kann. Der Raum dieses Werdens sei die Freiheit. Das Freisein des Menschen »für seine eigensten Möglichkeiten« sei eine Leistung der Sorge (1967, 199). Das »In-der-Welt-sein« sei »wesenhaft Sorge« (193), und dieses Grundphänomen könne mit nichts erklärt werden, was es in der Welt gibt. In der Sorge sieht Heidegger die grundlegende Weise des Daseins. In ihr liege »das Sein des Daseins beschlossen« (231). Dieses Dasein definiert er als »Sich-vorweg-schon-sein-in« der Welt (249, 192). Dasein sei ein Entwurf, der in der Sorge »gründet« (259). Heideggers nächster Gedanke ist der Tod, das »Sein zum Ende« (252) und sein übernächster ist das »Gewissen als Ruf der Sorge« (§ 57, 274). Der Zusammenhang von Sorge, Tod und Gewissen ist das Spannungsfeld des Daseins, dem wir in Sein und Zeit literarisch begegnen.

      Die Sorge hat für Heidegger eine ontologische und nur indirekt über den Tod und das Gewissen eine sittliche Bedeutung, die er aber nicht anspricht. Die Lebensstimmung, von der ich spreche, ist auch eine Daseinsstimmung. Deswegen können wir ihr in Heideggers Worten zubilligen, ›wesenhaft Sorge‹ zu sein. Damit wird aber nicht sichtbar, wie die Sorge wirkt, und was sie wirklich tun kann. Ontologisch bleibt die Sorge ein Gedanke, der abstrakt, farblos und frei von Schwankungen ist. Die Bedeutung der Sorge für das Leben wird postuliert, aber nicht so beschrieben, dass wir ihre Bedeutung für das eigene Leben erkennen können.

      Anders verhält es sich mit der Sorge, die Goethe im Faust beschreibt. Ich wiederhole noch einmal seine Verse: »Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, / Doch wirket sie geheime Schmerzen, / Unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh« (V. 644 – 646). Dies trifft die Unruhe stiftende, gefährdende Lebensstimmung der Sorge. Das Maß dieser Sorge entspricht Fausts verzweifelter Verfassung. Im »Zweiten Teil« des Faust erscheint die Sorge als eine von vier »grauen Weibern« (V. 11384 – 11498) um »Mitternacht«.

      Der Kommentator Albrecht Schöne (1925 – 1952) nennt dies »Endzeitangabe« (2003, 732) und weist auf die unterschiedlichen Deutungen der Sorge hin, als »Dämon«, als »qualvoll beengende Gewalt« (733). Dabei ist Faust sorglos in seiner rastlos blinden Tätigkeit (734). Michael Jaeger deutet Fausts Bewegungsdrang als »Abwehr der Todesahnung«, als Ausdruck einer »existentialistischen Ontologie« (Fausts Kolonie, 427). Die Gestalt der Sorge stellt diesen verdrängenden Bewegungsdrang Fausts als »vermeintlich pragmatischen Vorsatz zum Weiterschreiten« bloß, wie Jaeger feststellt (429). Goethe beschreibt die Sorge als Ankündigung eines fatalen Endes: »Wen ich einmal mir besitze, / Dem ist alle Welt nichts nütze; / Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter, /… / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle« (V. 11453 – 56, 11461 f.). Faust will davon nichts wissen: »Hör auf! so kommst du mir nicht bei! Ich mag nicht solchen Unsinn hören« (V. 11467 f.). Albrecht Schöne erkennt in den Sorge-Versen, angelehnt an den Mediziner Nager, »alle klassischen Lehrbuchsymptome« einer Depression (2003, 739).

      Da es um Fausts Ende geht, beschreibt Goethe nur die düstere, lebensgefährdende Sorge als Krankheitsphänomen, eine Krankheit zum Tode ohne die Selbst- und Glaubenszweifel, die diese Krankheit bei Kierkegaard (1813 – 1855) hat. Faust wehrt sich gegen die Selbstzweifel und will mit aller Macht die Einsicht in seine ausweglose Lage verdrängen. Diese Sorge kann nicht mehr lebensstiftend und lebensbewahrend werden. Sie ist nur noch zerstörerisch, eine das Leben gefährdende, verzweifelte Kraft. Paul Stöcklein beschreibt ausführlich die größere Gefühlseinheit der Sorge von der »quälenden Entschlußlosigkeit« bis zum quälerisch verzagten Reuegefühl (21960, 93–162, hier: 118).

      Wir sollten beide Seiten der Sorge ernst nehmen, die helle und die dunkle, weil beide unser Dasein bestimmen können. Wir können uns, wie Heidegger annimmt, zu dem entwerfen, wer wir sein können, wir können uns aber auch wie Faust, den Tod und das eigene Versagen verdrängend, in blindem Bewegungsdrang verfehlen und in Depression verfallen. Es kommt auf das Maß der Sorge an, das zwischen einem erdrückenden Übermaß und einer törichten Sorglosigkeit liegen sollte. Die Sorge wirkt im moralischen Handeln, aber auch jenseits der Ethik. Sie mutet uns mehr zu als das, was ethisch gerechtfertigt werden kann, vor allem dann, wenn es um Entscheidungen über Leben und Tod geht.

      Das Selbstverständnis, das wir der Sorge um unser Dasein verdanken, entsteht nicht in unseren sittlichen Gefühlen. Würden wir dies dennoch annehmen, würden wir Vorher und Nachher, das Spätere mit dem Früheren, verwechseln. Unsere Gefühle sind im Übrigen unzuverlässig und wechselhaft. Es hat keinen Sinn zu behaupten, dass wir sittliche Wesen sind, weil wir sittliche Gefühle haben. Damit würden wir nur sagen, dass wir sittliche Wesen sind, weil wir sittliche Wesen sind. Und was für welche (!), könnten wir gleich darauf resignierend bemerken. Das Normative als Normatives zu erklären, ist zirkulär, beliebig, manipulierbar und gedankenlos. Wir entfliehen damit der Schuldigkeit, die wir unserem Dasein gegenüber haben.

      Den Anspruch der Schuldigkeit vertritt auch Heidegger, wenn er von der Sorge als Schuldigkeit, sich zu entwerfen, spricht (Sein und Zeit, 286). Er nennt die Schuldigkeit auch »Entschlossenheit« (297). Deren Bestimmtheit sei die Unbestimmtheit (298). Dies ist kein inhaltsleeres Paradox. Die Formulierung will zeigen, dass die Sorge nicht schon bestimmte Ziele hat, auf die wir uns richten können. Würde die Sorge fertigen Entwurfszielen folgen, wäre sie nicht nur ontologisch, sondern auch moralisch vorherbestimmt. Wir würden schon wissen, wohin wir gehen sollten und gegangen sein werden, bevor wir unser Dasein entworfen haben. Wir kennen nur die Schuldigkeit als Sorge um uns selbst, um die anderen, um die Natur und die Umwelt.

      Mit der Sorge folgen wir keinem vorgefertigten Katalog von Maximen in dem Glauben, damit unserer Schuldigkeit gerecht zu werden. Wir leben mit einem gewissen Maß an Angst vor dem Scheitern, vor dem Ende des Daseins und vor dem sinnlosen, oberflächlichen Dahinleben. Wir sind offen für Glücken oder Scheitern. Das Scheitern ist nicht weniger wahrscheinlich als das Glücken. Wenn die Sorge von Sorgfalt und Hingabe begleitet wird, sind wir zur Sympathie und zum Wohlwollen anderen gegenüber fähig.

      Die Lebensstimmung der Sorge verstehen wir ontologisch nur unzureichend, weil wir so ihre Verbindung mit der Sittlichkeit nicht verstehen. Heideggers Gedanke der »Geworfenheit« ins Dasein lenkt von dieser Verbindung sogar ab, weil er Voraussetzungslosigkeit suggeriert. Wir sind als Einzelne nicht ins Dasein geworfen, sondern sind Nachkommen in einer Welt, in der es schon andere gibt. Zuerst sind wir Nachkommen, dann erst Einzelne. Es entspricht der Ordnung unseres Daseins, zuerst in Beziehungen mit den Anderen in der Welt zu leben und dann erst allein und mit uns selbst.

      Hartmut Rosa nennt diese Beziehungen ›Resonanz‹ (2018). Er meint damit Schwingungen, die sich überlagern und synchronisiert werden sollten, wenn wir ein gutes Leben führen wollen. Rosa versteht Resonanz

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