Ethik und ihre Grenzen. Wilhelm Vossenkuhl

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Ethik und ihre Grenzen - Wilhelm Vossenkuhl Blaue Reihe

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und der Norm der Gleichheit der Geschlechter ist groß. Es ist ein Schritt von etwas Konkretem zu etwas Abstraktem, von einer Anschauung zu einem Begriff. Der Schritt ist nur möglich, wenn die Sitten sich kulturell verändert und weiterentwickelt haben und den Ansprüchen eines erweiterten moralischen Raums genügen. Die Gründe dafür können wir nur nachträglich mit Hilfe der Historiographie und Ideengeschichte verstehen. Nur die Sitten, die zur Sittlichkeit geworden sind, können zu einer Ethik werden.

      Die Sittlichkeit ist der Schritt von der Sitte zur Ethik. Sitten sind nur anschaulich präsent und über regionale Grenzen sittlicher Räume hinweg oft unverträglich. Deswegen sind sie als Grundlagen einer allgemein geltenden Ethik nicht geeignet. Die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Sitten und Ethik können wir aber nicht ignorieren, weil nur Sitten die Kraft haben, das Verhalten bewusst und unbewusst zu leiten. Keine Ethik hat diese Kraft. Eine Ethik kann gute Gründe für Motive liefern, die moralisches Verhalten bewegen sollten. Eine Ethik kann auch nachträglich Handlungen und Handlungsweisen begründen, rechtfertigen oder kritisieren. Sie kann moralisches Handeln aber nur indirekt motivieren. Die Sittlichkeit nimmt dagegen die bewegende Kraft der Sitten auf, verstärkt oder schwächt sie und lenkt sie in einer Richtung, die moralisch anspruchsvoll ist. Die Sittlichkeit muss ihrerseits zur Sitte werden, damit sie als Ethik wirksam werden kann.

      Den Mangel an motivierender Kraft ethischer Theorien können wir indirekt daran erkennen, dass keine dieser Theorien eine überzeugende, nicht-tautologische Antwort auf die Frage geben kann, warum wir moralisch handeln sollen. Die Forderung, dass wir moralisch handeln sollen, weil es geboten ist, moralisch zu handeln, weil wir es sollen und weil es eine Pflicht ist, kann nicht befriedigen. Sie ist nicht nur tautologisch, sondern verweist auf die Begriffe des Sollens und der Pflicht. Begriffe können aber nicht motivieren. Würden wir uns darauf verlassen, dass eine Ethik eine Antwort auf jene Frage geben kann, müssten wir moralisch resignieren. Wenn wir dagegen auf die Frage, warum wir z. B. aufrichtig sein und unsere Versprechen halten sollen, die Antwort geben, weil es sich so gehört, verweisen wir auf keinen Begriff, sondern auf eine Praxis. Sie macht anschaulich, was sich gehört. Wir verstehen, was gemeint ist, weil wir es erleben können. Jede Praxis liefert Beispiele und Vorbilder, die exemplarisch zeigen, wie etwas gemacht wird und was sich gehört. Auf diesem Weg wird dann auch begrifflich erkennbar, was geboten ist. Wir bilden ethische Begriffe auf praktischen Grundlagen.

      Kant entgeht das Problem der moralischen Motivation nicht. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gesteht er ein, dass das Moralgesetz, das »objektiv« (4, 400) gilt, selbst kein Motiv ist, ihm zu folgen. Er versucht dieses Manko in einer längeren Fußnote (401) mit dem »Gefühl« der »Achtung« vor dem Moralgesetz wettzumachen. Es sei ein von der Vernunft und nicht von außen kommendes, ein »selbstgewirktes Gefühl«. Kant glaubt zu Recht, dass wir nur durch Gefühle und nicht durch abstrakte Begriffe zum Handeln bewegt werden. Selbstverständlich können Gefühle durch Nachdenken und Einsicht verstärkt und vertieft werden. Wenn ich erkenne, wie sehr mir mein Freund behilflich war, ohne dass ich es bemerkte, werde ich ihm noch dankbarer für seine Freundschaft sein. Meine Fähigkeit, Dankbarkeit zu empfinden, entsteht aber nicht durch meine Einsicht in die Hilfe meines Freundes. Ich muss die Fähigkeit schon haben, damit ich sie durch Einsicht vertiefen kann.

      Es läge nahe, dass Kant die motivierende Kraft der Maximen in seine Kategorischen Imperative überführt. Genau dies kann er aber nicht, weil sein Theorieprogramm vorsieht, dass das Moralgesetz und nicht die Maximen das bestimmen sollen, was wir wollen. Wir sollen »aus reiner Pflicht« handeln, nur das habe einen »moralischen Werth« (4, 406). Der »Zweite Abschnitt« der Grundlegung folgt diesem Gedanken, um die Bedeutung des Kategorischen Imperativs zu erklären. Dies sind die beiden wichtigsten Formulierungen des Kategorischen Imperativs: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (421) und »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (429). Ich komme auf den zweiten dieser Imperative später zurück, wenn es um die Bedeutung der menschlichen Würde geht. Ich werde dann mit Kants Imperativ den dazu gehörenden moralischen Raum erkunden. Für ihn gibt es nur einen moralischen Raum, weil in ihm alle sittlich bestimmten moralischen Räume aufgehoben sind. Zunächst müssen wir aber erkennen, dass Kant mit dem Gefühl der Achtung keine Antwort auf die Frage gibt, was uns zum moralischen Handeln motiviert. Obwohl sein Theorieprogramm das Motivationsproblem nicht löst, bietet seine Moralphilosophie eine gute theoretische Orientierung.

       SITTLICHKEIT

      Zur Freiheit des Erzählens gehört es, bereits Bekanntes anders zu erzählen. Diese Freiheit nehme ich mir. Was eine Ethik und was Sitten sind, ist ja nicht unbekannt. Auch der Zusammenhang zwischen beidem ist bekannt. Ich erzähle ihn anders, als er bisher verstanden wird. Der Zusammenhang ist schon in der griechischen Antike lebendig, in einer Zeit, in der es das Wort ›Ethik‹ noch nicht gibt und der hinter ihr stehende Theorieanspruch umstritten ist. Es gibt – zumindest seit Platon – das, was wir heute ›Tugendethik‹ nennen. Er untersucht die Tugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Klugheit und der Tapferkeit in vielen Dialogen und vergleicht sie mit weniger guten oder schlechten Sitten. Die Tugenden sind nichts anderes als die guten Sitten, das, was ›Sittlichkeit‹ bedeutet. Andere Sitten wie das Recht des Stärkeren sind aber für viele nicht weniger attraktiv als die guten Sitten, für die Sokrates wirbt.

      Zu den Sitten, die Sokrates kritisiert, gehören das Recht des Stärkeren und die damit zusammenhängenden Anmaßungen, etwa die, lieber Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Etwas pauschal und ungerecht können wir auch die spartanischen Sitten im Umgang mit männlichen Nachkommen und ihrer Erziehung zu Kriegern zu den Sitten zählen, die nicht gut sind. In Sparta waren diese Sitten freilich hoch angesehen, weil sie den Bestand der Polis garantierten. Auch in Athen fanden nicht nur die Sitten, die Platon in seinen Dialogen schätzt, Beifall, sondern auch einige schlechte. Es kommt darauf an zu verstehen, dass die guten Sitten eine kleine Auswahl aus der großen Menge an Sitten sind, von denen viele einen zweifelhaften Ruf haben. Was ›gut‹ an den guten Sitten ist und warum sie besser als die anderen sind, ist nicht selbstverständlich, sondern setzt Einsicht und Verständnis voraus. Platons Lehrer Sokrates vermittelt die Einsicht durch anschauliche Beispiele.

      Über die Verbindung zwischen Sitte und Ethik und die Bedeutung der Sittlichkeit will ich noch mehr erzählen. Um sie zu verstehen, sollten wir eine konkrete Anschauung von dem haben, was wir ›gute Sitten‹ und ›Sittlichkeit‹ nennen. Wir können Sitten auch, angelehnt an Kant, ›Maximen des Handelns‹ nennen. Denn einige, aber nicht alle dieser Maximen können Kategorische Imperative werden. Dies ist ein weithin akzeptierter Katalog von Maximen: Übervorteile niemanden; nehme nichts auf Kosten anderer in Anspruch (fahre nicht schwarz); halte deine Versprechen und mache keine falschen Versprechen (sei ehrlich); schikaniere, täusche, nötige, unterdrücke und quäle niemanden; töte niemanden, es sei denn in Notwehr; füge niemandem Schaden zu; manipuliere und zwinge niemanden; sei nicht heuchlerisch, nicht überheblich, nicht selbstgerecht und nicht anmaßend; sei wahrhaftig, ehrlich und aufrichtig, sei aufmerksam und hilfsbereit, den Eigenen und den Fremden gegenüber; sei großzügig, verständnisvoll, nachsichtig und nicht engstirnig! Dies sind zweifellos gute Sitten. Einige zählen zu den Zehn Geboten (nicht morden, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis geben). Viele werden in den Kulturen und Religionen der Welt anerkannt. Sie geben eine Vorstellung menschlicher Sittlichkeit und machen anschaulich, was mit ›Menschlichkeit‹ gemeint ist.

      Wenn ein Kind zu Hause oder in der Schule nicht weiß, was diese Maximen der Menschlichkeit bedeuten, hat es keinen Sinn, ihm Begriffe des Schwarzfahrens, der Ehrlichkeit oder der Wahrhaftigkeit etc. zu nennen. Es kommt darauf an, dem Kind anschauliche Beispiele dieser Verhaltensweisen und am besten auch ihres jeweiligen Gegenteils zu erzählen. Wenn es beides verstanden hat, versteht es auch die dazu passenden Begriffe. Das Kind hat dann eine Vorstellung von den Begriffen, die es ohne die Beispiele nicht hätte. Der Erwachsene, der dem Kind Beispiele vor Augen führt, kann anhand seiner Beispiele prüfen,

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