Mit allem rechnen (E-Book). Geri Thomann

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Mit allem rechnen (E-Book) - Geri Thomann Forum Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung

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Modelle (Miller et al., 1960; Neisser, 1976) ersetzt worden. Letztere beziehen auch innerpsychische Verhaltensprozesse mit ein. Hervorgehoben wird damit, dass nicht die Unmittelbarkeit zwischen Umweltreizen und menschlichen Verhaltensreaktionen die «Mensch-Umwelt-Beziehung» (M–U) am treffendsten beschreibt, sondern eine durch Vorschau und Rückkopplungsprozesse sich ergebende Kreisstruktur. In dieser Struktur tritt die menschliche Tätigkeit (Leontjev, 1977) als verbindungsstiftendes Glied zwischen die «Subjekt-Objekt-Beziehung» (S–T–O). Dabei spielen selbstverständlich Bedürfnisse, Motive, Einstellungen, mentale Modelle und Erfahrungen eine zentrale Rolle. Für unsere Diskussion genügt es festzuhalten: Wir verhalten uns nicht reizgesteuert, womöglich gar reflexartig. Wir sind vielmehr selbstbestimmte beziehungsweise weitgehend autonome Handlungswesen und beziehen dabei – aufgrund kontextueller Gegebenheiten – auch nicht bewusst zugängliche Fähigkeiten mit ein. Zu nennen sind hier zumindest folgende Konzepte: tacit knowledge (Polanyi, 1985); «gefühltes Wissen» (Gigerenzer, 2007, 2008); embodied mind (Fuchs, 2018); «Presencing = gegenwärtiges Erspüren» (Scharmer, 2015, S. 172, vgl. auch den Beitrag von Kuhn, S. 154) oder eben improvisierendes Handlungsvermögen (Dell, 2002, 2012). Diese impliziten, nicht grundsätzlich bewusstseinspflichtigen Wissensformen bergen Schnittmengen zum improvisierten Handeln, wie es in diesem Band thematisiert wird. Wir verweisen weiter unten nur auf eines dieser Konzepte, das «subjektivierende Handeln» nach Böhle (2017).

      Wer tätig ist und handelt, der antizipiert

      «Wie wir handeln, was wir können» (Volpert, 1992) ist umfassend erforscht sowie beschrieben worden und beeinflusste über viele Jahrzehnte die angewandten Disziplinen, insbesondere die Arbeitspsychologie (Hacker, 1986; Ulich, 2005). Wie immer die verschiedenen handlungstheoretischen Konzepte dargestellt werden, lassen sich die Teilaspekte auf wenige Komponenten reduzieren (s. Abb. 1) und stimmen in Hinblick auf ein zentrales Merkmal menschlichen Handelns – das der Zielantizipation – überein. Die Vorwegnahme eines Ziels charakterisiert letztlich das, wovon jedes Handeln handelt (vgl. Stadler & Wehner, 1983, 1985): Wenn sich individuelle Wünsche entwickeln und psycho-physiologische Bedürfnisse zeigen und selbst dort, wo Ideen ins Bewusstsein gelangen, entsteht parallel dazu auch ein antizipiertes (Wunsch-)Ziel[5].

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       Abbildung 1: Allgemeines psychologisches Handlungsmodell

      Der Antizipationsbegriff ist seit Cicero belegt und bezeichnet, dass Ereignisse, Entwicklungen oder Handlungen vorweggenommen werden. Der Begriff verweist aber auch auf die Fähigkeit aller lernfähigen Lebewesen, aus dem Gelernten – durch Reflexionsprozesse – Konsequenzen für zukünftiges Handeln zu ziehen. Die Frage nach der Antizipation ist damit auch die Frage nach der Quantität und Qualität vorher durchlaufener Handlungs- und Lernprozesse. In seiner früh formulierten und bis heute Evidenz beanspruchenden «Theorie der Persönlichen Konstrukte» formulierte G. A. Kelly (1955, S. 156) wie folgt: «Die psychischen Prozesse einer Person werden durch ihre Art, Ereignisse zu antizipieren, geregelt.»

      Für unser Thema des Improvisierens ist in der Abbildung 1 zentral, dass auf eine mögliche Differenz zwischen dem antizipierten Wunschziel und dem real erreichten Ergebnis hingewiesen wird. Selbst in natürlichen, chemischen, evolutionären und erst recht in technisch konstruierten oder programmierten Abläufen realisieren sich nicht nur die angenommenen Anfangs- und Randbedingungen. Nicht selten wirken auch kontingente Bedingungen auf das Geschehen ein: «Zufall und Notwendigkeit» (Monod, 1971) kennzeichnen natürliche, lebendige und technische Prozesse.

      Auf das Handeln bezogen zeigen sich in der Differenz zwischen dem antizipierten und dem tatsächlich erreichten Ziel die Auswirkungen von Störungen, Irrtümern, Fehlern, Missverständnissen und unter Umständen sogar von Scheitererfahrungen. Auch dies gilt – so unsere Hervorhebung – wiederum sowohl für rational-geplantes Handeln als auch für andere, adjektivisch gekennzeichnete Handlungsweisen. Mit anderen Worten: Auch das improvisierte Handeln kann scheitern. Es kann sich im Nachhinein als irrtümlich oder fehlerhaft, als gescheitert erweisen. Trifft man diese Annahme nicht, so bewegt man sich auf «überirdischen», zumindest «übersinnlichen» Pfaden.

      Die unerwarteten, mitunter sogar unerwünschten Ereignisse führen uns in die psychologische Fehler- und Irrtumsforschung (Wehner et al., 1983; Wehner 1992; Dörner, 1989; Reason, 1990) und – im Hinblick auf den Umgang mit diesem Zustand – zu meist zweierlei Fragen:

      I. Wie lässt sich das antizipierte Ziel eventuell dennoch erreichen?

      II. Welches Lernpotenzial ergibt sich aus der Reflexion einer Zielverfehlung?

      Die Hinwendung zur ersten Frage (I) verweist auf das improvisierende Handeln, während die zweite Frage (II) – gerade im Hinblick auf individuelles und organisationales Lernen – hinreichend beantwortet wurde und in der Praxis auf breite Anwendung gestossen ist (vgl. hierzu die Ausführungen zum single-, double-loop sowie zum deutero-learning; Argyris & Schön, 1996; Bateson, 1972).

      Wer improvisiert, braucht dafür nicht nur Gründe, sondern auch einen Auslöser

      Während technische Abläufe so gestaltet werden, dass eine Störung möglichst zum Stillstand des Geräts oder der Anlage führt (v. Neumann, 1967), bemühen sich lebendige Kommunikations- oder Handlungsprozesse darum, dass sich Störungen, Fehler, Irrtümer oder Missverständnisse harmlos auswirken, sodass der Handlungsprozess nicht völlig zusammenbricht, im Fluss bleibt und damit die ursprünglichen Absichten beziehungsweise initialen Wünsche oder Bedürfnisse weiter verfolgt werden können – wenn auch nicht wie geplant. Unabhängig davon, was die Ursachen dafür gewesen sein mögen, warum ein real erreichter Zustand nicht mit den Erwartungen übereinstimmt, lässt sich zufälliges oder chaotisches Weiterhandeln äusserst selten beobachten, ein Sichdurchwursteln schon eher und häufiger improvisiertes Handeln.

      Wenn improvisiertes Handeln nicht Selbstzweck ist – was es im Jazz durchaus sein kann (s. den Beitrag von Kuhn, S. 154) – dann braucht es einen Auslöser. Nehmen wir an, eine Dozentin hat in einer bestimmten, gut geplanten Lehreinheit vorgesehen, dass sie von einer Studentin in wichtigen, ebenfalls geplanten und eingeübten Passagen, unterstützt wird. Nehmen wir nun weiter an, dass die Studentin am Unterrichtstag nicht kommt, weil sie krank ist, aber leider keine Ersatzperson eingeplant war: «Die Stunde verschieben, oder improvisieren?» ist dann die Frage. Wer diese Frage mit improvisierendem Handeln beantwortet, kann durchaus erleben: «Nicht gescheitert bin ich, weil ich improvisierte.» Improvisation ist also mehr als eine Verlegenheitslösung, sondern eine Form von Handlungsvermögen, die durch ein nicht antizipiertes kritisches Ereignis ausgelöst wird und zum Erfolg führen kann. Der Geltungsbereich improvisierenden Handelns beginnt demnach dort, wo ein noch so rational geplanter Vorgang zu seinem vorläufigen Ende gekommen ist und wo relatives Scheitern[6] seinen Ausgang nehmen könnte.

      Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle noch, dass wir – für alltägliches oder berufliches Handeln – davon ausgehen, dass nur, wer umfassend geplant beziehungsweise sich gut vorbereitet hat, auch auf sein improvisierendes Handlungsvermögen zurückgreifen kann – ohne Garantieanspruch, wie beim rational-planvollen Vorgehen auch.

      Wenn nun sowohl auf den Auslöser beziehungsweise auf die Gründe für das improvisierende Handeln und damit auch auf den Geltungsbereich hingewiesen wurde, kann noch ein Gedanke bezüglich der Konsequenzen geglückter Improvisation angefügt werden. Der geglückten Improvisationserfahrung sollte nicht ein Planungspessimismus folgen; es gilt vielmehr, «unrealistischen Planungsoptimismus» zu überwinden. Nicht nur Märchenfiguren unterliegen dem «Rumpelstilzchen-Effekt»[7]: Auch menschliche Planerinnen und Planer entwerfen technische oder organisatorische

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