Sisi, Sex und Semmelknödel. Omar Khir Alanam
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Ganz anders bei Deutschland. Auch wenn ich bis zu meinem ersten Tag in Österreich nicht ein einziges Wort Deutsch gekonnt oder auch nur je zuvor gehört hatte – Deutschland, ja, das stand für etwas. Schon damals. Deutschland, Almanya, war und ist in Syrien der Inbegriff für Technik. Für Präzision. Für Maschinen. Dazu zählt in der Wahrnehmung der Syrer allerdings auch ein sehr übles Gerät: der deutsche Stuhl. Ein Folterinstrument aus beweglichen Teilen, mit dem der Körper von Gefangenen überdehnt wird, was häufig auch dazu führt, dass den Opfern irgendwann die Wirbelsäule gebrochen wird. Geflohene Nazischergen sollen dieses Teufelsgerät seinerzeit nach Syrien gebracht und dort populär gemacht haben.
Aber bleiben wir lieber bei jener deutschen Technik, die zurecht mit Ruhm bedacht wird. Autos zum Beispiel. Darum muss ich auch immer lachen, wenn ich einen aus der syrischen Community hier in Österreich am Steuer eines Wagens sehe. Des eigenen Wagens. Egal wie klapprig oder schrottreif die Kiste auch sein mag. Der ganze syrische Stolz einer gedemütigten, unterdrückten und von Krieg geschlagenen Nation sitzt da hinterm Lenkrad. Weil diese alte, klapprige Kiste dafür steht, was viele Araber (aber auch Menschen vom Balkan und aus der Türkei) mit Glück verbinden. Mit Wohlstand. Damit, es auch in der Fremde geschafft zu haben. Hauptsache, dass der Wagen einen dieser drei bis ins ferne Arabien klingenden Namen trägt:
Audi.
BMW.
Mercedes.
Glück ist eine Oase, die zu erreichen nur träumenden Kamelen gelingt, besagt eine alte Beduinenweisheit. Und die zweibeinigen syrischen Kamele träumen eben von einem deutschen Auto als Schlüssel zum Glück. Egal, ob es hinten beim Auspuff rausqualmt wie aus dem Rauchfang einer Dampflokomotive in der Jarmukschlucht, damals, als es in Syrien noch ein richtiges Eisenbahnnetz gab, bevor es zerbombt wurde. Egal, ob in der ersten eigenen Wohnung nichts außer einer Matratze zu finden ist (und vielleicht noch ein riesengroßer Flatscreen-Fernseher, der den ganzen Tag läuft, oft genug auch nur, damit er sich selbst zuhören kann, weil sonst niemand zu Hause ist). Egal, ob der Kühlschrank gähnend leer ist. Hauptsache Auto, Hauptsache deutsch. Hauptsache, mit einem der drei großen Namen.
Aber Nemsa?
Interessant ist, dass Österreich (das habe ich mal in einem Bericht über zwei Salzburger, die in Algerien von Fundamentalisten entführt worden waren, gelesen) das einzige Land der westlichen Hemisphäre ist, für das es ein eigenes arabisches Wort gibt. Also eines, das nicht hergeleitet ist. Hier würde man sagen: eingedeutscht. Oder eingearabischt. Nemsa ist jedoch ein echtes, gewachsenes, arabisches Wort. Das habe, hieß es in dem Artikel, vor allem historische Gründe. Ein Nemsawi zu sein, würde jedenfalls – im Fall des Falles – von Vorteil sein. Wobei ich aus heutiger Erfahrung ergänzen möchte: Es kann auch ein Vorteil sein, ein Nemsawi zu sein, ohne dass man sich deshalb gleich entführen lassen muss.
Für mich jedoch war Nemsa damals ein völlig unbeschriebenes Blatt. Ein weißes Blatt Papier. Das große Schreckgespenst vieler Schriftsteller. Einfach sehr weiß und sehr leer. Dafür aber mit sehr viel Platz für das große Staunen. Und gestaunt habe ich auch, als ich hierher kam. Als zum Beispiel ein Landsmann, der mit mir geflohen war, vor meinen Augen zu einem Polizisten im Burgenland hingegangen ist und ihn um eine Zigarette gebeten hat. Rotzfrech, sagt man da, oder? Das war keine zehn Minuten, nachdem wir per Schlepper-Sammeltaxi in Österreich gelandet und aufgegriffen worden waren. Und dann sah ich, wie der Polizist ihm auch noch die gewünschte Zigarette gegeben hat. Und Feuer obendrein. Einfach so!
Probieren Sie das mal in Syrien. Oh nein. Probieren Sie es lieber nicht. Und schon gar nicht an einem Tag, an dem der Polizist womöglich mit seiner Frau gestritten hat. Oder bloß die Oliven beim Frühstück nicht den perfekten Reifegrad hatten. Das allein kann dein Leben entscheidend verändern. Weil da nicht das Feuer für die Zigarette deinen Tag erhellt, sondern es im Gegenteil ganz schnell finster werden kann. So finster wie in einem der tausenden Kerker der syrischen Staatsgewalt. Finster wie eine tiefschwarze arabische Nacht draußen in der Wüste. Ohne Lichtverschmutzung. Aber auch ohne Sternenhimmel.
Ja, mein großes Staunen hat tatsächlich schon auf den allerersten Metern nach der Grenze angefangen. Im bitterkalten November 2014. Das war noch einige Monate vor der großen Wir-schaffen-das-Welle. Damals, nahe der ungarisch-burgenländischen Grenze, haben wir noch zu zweit gestaunt. Der Polizist mit der Zigarette hat gestaunt, als er gleich nach meinem rotzfrechen Landsmann mich gesehen hat mit meinen hauchdünnen Sommerschuhen, in denen ich ohne Socken steckte. Und ich habe gestaunt, weil ich das Gefühl hatte, bei Alice im Wunderland gelandet zu sein. Also doch ein Hauch von Australien. Irgendwie.
Das Staunen des Beamten hat sich vermutlich rasch wieder gelegt. Weil er bald danach ganz sicher jede Menge Menschen gesehen hat, die ähnlich luftig unterwegs waren wie ich. Mein Staunen hingegen sollte aus tausendundeinem Grund anhalten. Bis zum heutigen Tage.
Wenn es mich wieder mal so richtig packt mit dem Nicht-verstehen-Wollen oder Können, dann stelle ich mir Fragen nach meiner Identität, und genau dann – wenn ich zum Beispiel in unserer kuschelig warmen Küche in Graz wieder mal anstatt zu Olivenöl zu steirischem Kürbiskernöl greife oder ich den Araber in mir auf andere Weise verwirre – genau dann tritt Alena mit ihrem treffsicheren weiblichen Instinkt auf den Plan. Punktgenau. Sie ertappt mich auf frischer Tat auf dem Höhepunkt meiner Identitätsverwirrung. Und sie stellt sich vor mich hin und sagt:
»Omar, wenn du so weitermachst, bist du bald ein gelernter Österreicher.«
Bin ich das?
Wikipedia hat ja für so gut wie alles einen Eintrag. Gelernter Österreicher findet sich dort natürlich auch. Da heißt es: Menschen mit besonderem Insiderwissen über Land, Leute und Gepflogenheiten. Sie gelten, lese ich weiter, als Kenner der Verhältnisse, sozial, politisch und so weiter.
Was auch immer das bedeuten mag.
Was auch auf Wikipedia steht, ist: Das Ganze ist ironisch gemeint. Oder selbstironisch. Je nachdem, wie lustig die Leute anderen oder sich selbst gegenüber aufgelegt sind. Und der Begriff, erfahre ich darüber hinaus, geht auf die Zeit des Schriftstellers Franz Grillparzer zurück. Ein Zeitgenosse von Johann Nestroy also, auf den ich auch schon gestoßen bin und der mir eine wunderbare Semmel-Geschichte geschenkt hat. Ich werde davon berichten. Damals, zu Grillparzers Zeiten, sagte man jedenfalls noch: geübter Österreicher. Später dann machte ein gewisser Friedrich Torberg den gelernten daraus.
»Torberg«, sagt Alenas Mama Ruth, »war einer der besonders scharfzüngigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Es gibt da dieses berühmte Buch von ihm, die Tante Jolesch, und darin diesen einen ganz besonders berühmten Ausspruch, den jeder kennt. Zumindest jeder, der auch weiß, wer Friedrich Torberg war.«
»Welchen Spruch, Ruth?«
Ruth sieht mich mit ihren direkten Augen an. Das war das Erste, was mir damals an ihr aufgefallen war, als ich sie als Alenas Mama kennenlernen durfte und zugleich furchtbare Angst hatte, sie könnte ein Problem mit mir haben. Einfach, weil ich Araber und Asylwerber war. Ruths direkte Augen. Ihr Blick, der anderen Blicken niemals ausweicht. Ihre so unglaublich ruhige Stimme. Ihr schönes, schwarzes, glänzendes Haar, das sie gerne auch mal zu einer Palme hochgebunden trägt. Ich, Omar, war für sie von Anfang an der junge Mann (und nicht einfach nur der Flüchtling), der in ihre Tochter verliebt war und ist. Und sie, Ruth, war für mich von Anfang an die Frau, die in die Ruhe verliebt ist.
Jetzt bin ich es, der sie aus direkten Augen ansieht. »Also, welchen Spruch, Ruth?«
»Was