Kalte Sonne. Johannes Epple
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»Sie sind in Ohnmacht gefallen. Gestern.«
»Gestern?«
»Der Arzt kommt gleich.«
Marija hängte die Kochsalzlösung an den Haken über ihrem Bett. Das Bett der zweiten Frau im Zimmer war leer. Im Gitterbett quengelte ihr Junge. Aus dem Bad kamen Duschgeräusche.
»Bitte geben Sie mir mein Kind«, sagte Hanna.
Hanna zeigte auf ihr Nachthemd, das nass war von der austretenden Muttermilch.
»Ich hole eine Pumpe«, sagte Marija.
»Ich will keine Pumpe«, antwortete Hanna. »Ich will mein Kind.«
Brandner kam mit seinen Assistenten zwanzig Minuten später. Unter dem weißen Mantel trug er ein weißes Hemd mit einer roten Krawatte. Er blätterte in Hannas Mappe und erzählt währenddessen seinen Assistenten von Hannas Arbeit in der Embryonenforschung und ihren gemeinsamen Studienjahren an der Universitätsklinik. Er schmeichelte Hanna dabei ein wenig.
»Ich weiß, wer ich bin«, unterbrach ihn Hanna. »Ich kenne meine Geschichte.«
Brandner nestelte an seinem Krawattenknoten. »Schon gut«, sagte er.
Als Ärztin hasste es Hanna, schlechte Nachrichten zu überbringen. Auch deswegen war sie nach dem Studium in die Forschung gegangen. Forschung bedeutete für sie, den Kontakt zu den Patienten auf elegante Weise zu reduzieren. Es gab nur sie und die konzentrierte Sterilität des Labors. Es gab keine schlechten Nachrichten. Es gab nur in Paraffin fixierte Versuchsanordnungen, die keine Schmerzen empfanden.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Brandner. »Noch nie hat so ein Junge in Wien eine Geburt überlebt.«
»Was ist mit meinem Kind?«, schrie Hanna. »Ich will es sehen.«
Brandners Assistenten senkten die Blicke.
»Der Junge liegt auf der Intensivstation«, sagte Brandner. »Die Psychologen meinten, wir sollen noch warten, bis wir ihn dir zeigen. Du weißt ja, wie das ist.«
»Vergiss die Psychologen. Bring mich sofort zu dem Jungen.« Hanna rutschte aus dem Bett. Als ihre Fußsohlen den Boden berührten, musste sie sich am Nachtkästchen festhalten. »Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du dir einen Job als Pharmareferent suchen.«
»Wie du meinst.« Brandner schickte die Assistenten ins Schwesternzimmer. »Komm mit«, sagte er, und befestigte Hannas Infusionsbeutel auf einem Ständer.
Mit dem Lift fuhren die beiden ins Erdgeschoss zur Intensivstation für Neugeborene. Brandner öffnete mit einer Karte eine Schiebetür und bat Hanna, ihm zu folgen. Die Intensivstation war ein schmaler Raum mit einer langen Reihe von Brutkästen. Auf einem Mauervorsprung standen dreißig Fläschchenwärmer mit vollen Milchflaschen. Ein EKG-Gerät piepste leise. Hannas Hände zitterten. Sie hatte sich alles so anders vorgestellt. Was passierte hier?
Ganz hinten lag ein Neugeborenes in einem Gitterbett mit einem leeren Namensschild. Am Kopfende stand ein Herzfrequenz-Überwachungsgerät. Von der Decke hing eine höhenverstellbare Halogenlampe, die wohl dazu diente, die Körpertemperatur des Säuglings zu regulieren.
»Dein Sohn«, sagte Brandner.
So lange hatte Hanna auf diesen Augenblick gewartet, nun wagte sie es nicht, näherzutreten. Eine blassrosa Bettdecke. Vier Schläuche, die seitlich aus dem Bett hingen, und eine Infusion für die künstliche Ernährung. Am Namensschild war nichts als eine grau gepunktete Linie. ›Lisa‹ sollte dort stehen.
Monatelang hatte sie mit Manuel über den Namen nachgedacht. Er hatte ausgefallene Namen vorgeschlagen. Naima. Keisha. Tessa. Hanna lehnte solche Namen nicht rundheraus ab. Manche fand sie schön. Aber die Namen sprachen nicht zu ihr. Sie drängten sich nicht auf.
Bei ›Lisa‹ war das anders. Der Name war einfach, aber er erzeugte Bilder eines Alltags, der Hanna an ihre eigene Kindheit erinnerte. Butterbrote, Buntstifte, Hausübungsgutscheine. Geburtstagspartys, Faschingskostüme, Wasserfarbenspritzer. Hannas Vergangenheit und Lisas Zukunft.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Brandner.
Hanna trat an das Gitterbett heran. Der Kopf des Jungen war mit weißem Mullverband verbunden und der Körper war in eine weiße Decke gepackt. Nur das Gesicht lag offen da. Die Haut war rot und an den Wangen von dicken, violetten Adern durchzogen. Die Oberlippe war bis zur Nase gespalten. Die Augen waren geschlossen. Hanna sah, dass sie sich nie öffnen würden. »Er wird sterben«, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker neben dem Gitterbett.
Brandner nickte.
»Welche Chromosomenstörung ist es? 13 oder 18?«
»Das klären wir gerade.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Kleine keinen Ton von sich gab. Inmitten des Geschreis der Frühgeborenen war ihr Sohn vollkommen still. Er wirkte, als sei er noch gar nicht auf der Welt angekommen. Die anderen Kinder kreischten, bis sie rot anliefen und beinahe an ihrer Angst oder ihrem Schmerz erstickten. Ihr Sohn lag einfach da. Blind. Kraftlos. Mit einem Turban aus tausendundeiner Nacht.
Brandners Pieper ertönte. »Wir reden am Abend«, sagte er. Ehe er ging, drehte er sich noch einmal um. »Der Kleine wird viel Fürsorge brauchen.«
Hanna sah auf. »Fürsorge? Er braucht Infusionen. Er braucht künstliche Ernährung. Er braucht ein Beatmungsgerät. Das nennst du Fürsorge?«
Hanna blieb noch eine Stunde bei ihrem Sohn. Seine Hand war feucht und weich wie Plastilin. Sie blickte abwechselnd vom Gesicht des Kleinen zum Monitor, der seinen Pulsschlag aufzeichnete. Er braucht einen Namen, dachte sie. Ihr fiel ein mittelalterlicher König ein, der für seine geringe Körpergröße in ganz Europa bekannt war. Pippin, sagte sie zu sich selbst. Einen passenderen Namen konnte sie sich nicht vorstellen.
Zu Mittag bat sie Marija, sich bei der kleinsten Veränderung von Pippins Gesundheitszustand bei ihr zu melden. Egal, was von nun an mit dem Jungen geschah, Hanna wollte dabei sein. Das Schlimmste von allem war die Warterei auf der Station gewesen.
Während sie zum Lift ging, fragte sie sich, ob sie Manuel anrufen sollte. Was sollte sie ihm sagen? Wie würde er reagieren? Hanna vermutete, dass er sehr liebevoll sein würde. Er würde sie trösten. Die Vorstellung, dass sie getröstet werden musste, verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend.
In der Station verteilten die Pfleger die Tabletts mit dem Mittagessen. Hanna setzte sich mit einem vegetarischen Menü auf den Balkon. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Tannen im Park warfen kaum Schatten. Hanna kostete ihre Ravioli mit Gorgonzolasauce und verzog das Gesicht. Die Nudeln waren weich und schmeckten nach gekochten Styroporplatten. Nach einem zweiten Bissen legte Hanna das Besteck weg und betrachtete die Tannen. Alles war ihr gleichgültig. Die Schmerzen. Der Durst. Die Sonne. Manuel. Nichts hatte Bedeutung. Die Bilder, die Gedanken, die Wünsche, die Hoffnungen, die Hanna in den vergangenen Tagen und Wochen begleitet hatten, waren weg. Sie fühlte sich leer. Sie empfand nicht einmal Schmerz über Pippins Zustand oder Zuneigung zu ihm, es war eher eine Art ungläubige Verwunderung.
Das ist mein Kind?
Das wird meine Zukunft sein?
Hanna wunderte sich. Über die Tannen, die Sonne, die Autos am Parkplatz.