Kalte Sonne. Johannes Epple

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Kalte Sonne - Johannes Epple

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Flug ohne Zwischenstopp, ohne Ziel, mit Passagieren, die starr nach vorne blicken.

      Nachdem der Pfleger das Tablett mit ihrem kaum angerührten Mittagessen abgeholt hatte, kontrollierte sie ihre E-Mails. Sie hatte eine Nachricht von Manuels Eltern und eine von Sylvia Bergmann erhalten. Manuels Eltern wussten nichts von der verfrühten Geburt. Sie erkundigten sich nach ihrem Befinden. Bei Sylvia lagen die Dinge komplizierter. Während Hanna am Vortag auf die Rettung gewartet hatte, hatte sie per SMS einen Vortrag und einen Besprechungstermin im AKH abgesagt. Sylvia wusste also von der Geburt. Ihre Mail klang entsprechend aufgeregt. Glückwünsche, Emojis, ein Foto von der Labormannschaft.

      Hanna strich sich eine Strähne aus der Stirn. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war ein Besuch ihrer Arbeitskollegen. Sie hatte keine Ahnung, was sie in die Mail an Sylvia schreiben sollte. Am liebsten wäre ihr: Lass mich. Aber das würde Sylvia nur neugierig machen.

      »Geht’s Ihnen gut?«

      Hanna fuhr herum.

      Marija. Sie hatte die Ärmel ihres blassblauen Schwesternkleides hochgekrempelt. Das Tattoo an ihrem Handgelenk zeigte eine blaue Rose. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie mit weicher Stimme und gab ihr einen Folder des Kriseninterventionszentrums für Eltern von behinderten Kindern.

      Hanna blätterte darin. Sie empfand die darin zelebrierte Kopf-hoch-Haltung als entwürdigend.

      »Im dritten Stock finden Sie Frau Dr. Bayer«, sagte Marija. »Sie ist Psychologin. Die Dienstzeiten stehen auf der Rückseite. Reden Sie mit ihr. Es wird Ihnen guttun.«

      Psychologie? Hanna hatte eine Abneigung gegen dieses Fach. Es war eine halbe Geisteswissenschaft, ein Hort von schiefen Wahrheiten und kruden Thesen. Schon an der Uni hatte Hanna die Psychologiestudenten belächelt. Meist waren es junge Frauen gewesen, halbe Mädchen, die schon einen ausgeprägten Mutterinstinkt zu haben schienen und bei jedem noch so großen Unsinn, den jemand von sich gab, verständnisvoll nickten.

      Hanna brauchte kein Verständnis. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie hatte Pech gehabt. Das war alles.

      Nachdem Marija mit einem fürsorglichen Lächeln im Gesicht wieder abgezogen war, überlegte Hanna, was sie Sylvia schreiben sollte. Dabei betrachtete sie den Folder. Die erste Seite zeigte ein Kind mit Trisomie 21. Hanna betrachtete das runde Gesicht mit den schmalen Lippen und den charakteristisch geschwungenen Augen. Pippin würde wohl nie so gesund aussehen. Wenn er tatsächlich Trisomie 13 oder 18 hatte, würde er nicht älter als ein oder zwei Jahre werden.

      Hanna starrte auf ihr Handy. Draußen am Gang hörte sie Kindergeschrei. Eine Frau mit Blumen trat aus dem Lift. Ein Pfleger brachte ihr frischen Früchtetee. »Alles ist gut«, schrieb sie. »Alles ist so, wie es sein soll. LG, H.«3

      Anfang August, 2015

      Lordtom99:\4\Wien_München_Hamburg:Neumann.docx

      Das Nachmittagslicht gab den Dingen eine sanfte Aura. Es nieselte, der Gehsteig war nass. Es roch nach verdampfendem Wasser und feuchtem Gras. Ich ging die Alser Straße hoch zum Gürtel und nahm die U6 zur Burggasse. In der Station kaufte ich ein Falafel-Sandwich und einen Ayran. Ich aß auf meinem Innenhofbalkon, startete mein Notebook und lud die Fotos von der Kleinen aus dem Kinderdorf hoch. Ein 14 Monate altes Mädchen, die Haare braun und noch etwas dünn, die Augen groß und blau.

      Ich kontrollierte meine Mails und schrieb Tereza, der Pflegerin meiner Mutter, dass ich heute noch nach München fahren würde, um bei ihrem morgigen Umzug ins Pflegeheim dabei zu sein. Meine Mutter war fast achtzig und wurde langsam senil. Vergangene Woche hatte sie vom Supermarkt, in den sie seit zwanzig Jahren ging, nicht mehr heimgefunden. Da ich nach meinem Medizinstudium gleich die Stelle im Wiener Donauspital bekommen hatte und selten nach München kam, war sie die meiste Zeit auf sich gestellt. Seit drei Jahren kümmerte sich Tereza um das Nötigste, aber die war allmählich auch überfordert.

      Die Fahrt nach München dauerte länger als sonst. In Salzburg geriet ich in den Abendverkehr. Erst bei Freilassing löste sich der Stau auf. Kurz nach acht Uhr bog ich in die Wohnsiedlung in Ottobrunn ein. Meine Mutter lebte gegenüber einem Fußballplatz in einem zweistöckigen Haus mit einem drei Meter breiten Grasstreifen als Garten und freiem Blick in das Badezimmer des Nachbarn. Seit dem Tod meines Vaters hatte die Pflege des Gartens stark gelitten. Die Hainbuchenhecken mussten längst geschnitten werden und der Kirschbaum war verwildert.

      Im Haus stieg mir ein altbekannter Geruch in die Nase. Mein Vater war Imker gewesen, und zu seiner Arbeit hatte auch das Ausschmelzen der Bienenwaben gehört. Er erledigte diese Säuberungsaktionen jedes Jahr im Oktober immer wochentags, wenn ich in der Schule war, und meine Mutter ihrem Job im Sekretariat der örtlichen Zweigstelle einer Versicherung nachging.

      Nichts, und ich meine absolut nichts, roch erbärmlicher als ausgeschmolzene Waben. Als Kind empfand ich den Geruch als ein olfaktorisches Inferno, für das ich mich vor meinen Schulfreunden schämte. Heute wurde ich rührselig, als ich im Vorraum meine Wildlederschuhe abstreifte und diesen Gestank in der Nase hatte. Es hatte wohl etwas mit Nostalgie und meinem schlechten Gewissen gegenüber meiner Mutter zu tun.

      »Ich bin’s, Georg«, rief ich, als ich ins Wohnzimmer trat.

      Meine Mutter sah sich eine Sendung über die Naturwunder Amerikas im Bayrischen Rundfunk an. Da sie auf meine Begrüßung nicht reagierte, rutschte ich neben ihr auf die Couch und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Mit leeren Augen starrte sie mich an. »Ich bin’s, Georg«, wiederholte ich.

      Tereza tauchte in der Küchentür auf und schüttelte den Kopf. »Tagsüber war es gut«, sagte sie. »Wir waren in der Stadt beim Friseur, nicht wahr, Frau Neumann?«

      Statt einer Antwort gab meine Mutter ein tiefes Gurgeln von sich. Mit halb offenem Mund starrte sie in eine Dimension jenseits von Raum und Zeit.

      »Georg?« Sie sah zwischen Tereza und mir hin und her.

      Tereza holte eine Tasse heiße Milch aus der Küche. »Schauen Sie, was ich hier habe«, sagte sie.

      Meine Mutter lächelte wie ein fünfjähriges Mädchen vor dem Weihnachtsbaum.

      Ich bat Tereza in die Küche. Ich war schockiert über den Zustand meiner Mutter. Bei meinem jüngsten Besuch hatte sie noch viel klarer gewirkt.

      »Sie ist aufgeregt wegen Ihres Besuches. Es ist nicht immer so schlimm«, sagte Tereza.

      Ich holte mir aus dem Kühlschrank ein kleines Bier und schnippte die Krone in den Mülleimer. »Ist sie noch zu einem normalen Gespräch fähig?«

      »Kommt drauf an, was Sie darunter verstehen.«

      »Ich habe Fragen.«

      »Vielleicht morgen«, sagte Tereza.

      Ich sah zum Küchenfenster hinaus. Im Nachbargarten schraubten zwei Burschen mit umgedrehten Baseballkappen an einem Quad. Im Hintergrund lief deutscher Hiphop. »Ich habe ein Foto von Helene«, sagte ich. »Ich will ihr damit eine Freude machen. Soll ich es ihr jetzt zeigen?«

      »Schön, dass die Kleine wieder da ist. Der Stress nach der Entführung aus dem Krankenhaus hat Ihre Mutter schwer belastet.«

      »Da meine Mutter nicht mehr dazu fähig ist, hat mich die Polizei ersucht, die Vormundschaft für Helene zu übernehmen.«

      »Und?«

      »Ich habe

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