Trauma und interkulturelle Gestalttherapie. Colette Jansen Estermann

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Trauma und interkulturelle Gestalttherapie - Colette Jansen Estermann IGW-Publikationen in der EHP

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das Land eine schwere soziale Krise durch; Streiks, Straßensperren und Zusammenstöße der Indígenas (Einheimischen), Gewerkschaften und Kokabauern mit den Streitkräften waren an der Tagesordnung.

      2002 gewann »Goni«, wie Gonzalo Sánchez de Lozada genannt wird, in einer zweiten Runde gegen Evo Morales die Wahlen und wurde zum zweiten Mal Präsident Boliviens (nach 1993-1997). Folglich hatte Bolivien wiederum eine Figur als Präsidenten, der wegen seines jahrelangen Aufenthaltes in den USA besser Englisch als Spanisch sprach und das größte Privatunternehmen Boliviens zur Förderung und Kommerzialisierung von Mineralien des Altiplano (Andenhochland) errichtet hatte. Im Februar 2003 beschloss seine Regierung, eine Einkommenssteuer zu erheben, um das enorme Fiskaldefizit abzuarbeiten und den Forderungen des Internationalen Währungsfonds nachzukommen. Diese unbeliebte Maßnahme führte zu einem Generalstreik und einer Meuterei der Polizei, worauf die bewaffneten Streitkräfte in La Paz eingriffen, was zu mehr als 20 Toten führte. Im Oktober desselben Jahres gab es Gerüchte bezüglich eines Plans, bolivianisches Erdgas über chilenische Häfen in die USA, nach Mexiko und Chile zu exportieren. Aus Protest mobilisierten sich verschiedene soziale Bewegungen des Altiplano und El Alto. Die Regierung versuchte diesen Aufstand mithilfe des Militärs gewaltsam zu unterdrücken, dabei kamen 65 Menschen ums Leben und Hunderte wurden verwundet. Darauf gingen auch Sektoren der Mittelschicht von La Paz auf die Straße und forderten den Rücktritt von Goni. Dieser floh mit Milliardenbeträgen aus der Staatskasse in die USA, wo er noch immer als anerkannter »Flüchtling« lebt. Bolivien hat zwar ein Gesuch um seine Auslieferung gestellt, dieses wurde aber in mehreren Instanzen abgelehnt.

      Sein Nachfolger war der Vize-Präsident Carlos Mesa, der ein Kabinett mit Politikern bildete, die keiner Partei angehörten, und der dem Volk ein Referendum hinsichtlich des Gasexportes und der Verstaatlichung der Erdgas- und Erdölvorkommen versprach. Er bekam aber nahezu keine politische Unterstützung, und unter dem Druck schwerer sozialer Unruhen trat er nach etwa zwei Jahren zurück. Das Präsidentenamt wurde dann völlig unerwartet dem Vorsitzenden des Höheren Gerichtshofes, Eduardo Rodríguez Veltze, übergeben. Dieser bildete lediglich eine Übergangsregierung unter Einberufung allgemeiner Präsidentschaftswahlen im Dezember 2005.

      Seit Januar 2006 ist Evo Morales Ayma der erste Präsident indigener Abstammung eines Landes, dessen Bevölkerung zu 62 Prozent aus Indigenas besteht. Zudem ist er der zweite Präsident der Republik Bolivien, der mit einem absoluten Stimmenmehr von 54 Prozent im ersten Wahlgang gewählt wurde. Er ist auf dem Land aufgewachsen, vier seiner sechs Geschwister sind als Kind gestorben, seine Schulbildung ist sehr rudimentär. Er war lange Zeit Gewerkschaftsführer der Kokabauern. Einige volksnahe Maßnahmen während seiner bisherigen Amtszeit bestanden in der Herabsetzung des eigenen Gehaltes und anderer Regierungsfunktionäre, der jährliche Bonus für alle Kinder der Grundschule und ein monatlicher Bonus für schwangere Frauen und solche mit kleinen Kindern sowie eine Grundrente für Betagte. Außerdem gab es mithilfe von Venezuela und Kuba eine Alphabetisierungskampagne. Mit einem Dekret wurden die Erdöl- und Erdgasvorkommen verstaatlicht, während die internationalen Konzerne nun dem bolivianischen Staat etwa dreimal so viel Steuern wie vorher abtreten müssen, wobei diese allerdings in Bolivien nach wie vor ein rentables Geschäft machen.

      Mit einem Referendum wurde am 25. Januar 2009 die neue Staatsverfassung, welche die demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung (Asamblea Constituyente) während neun Monate inmitten großer Spannungen und Krawallen ausgearbeitet hatte, mit 61 Prozent der Stimmen angenommen. Außerdem wurde bei dieser Gelegenheit der maximal erlaubte Grundbesitz pro Person auf 5.000 Hektaren festgelegt. Dieses Gesetz hat jedoch keine rückwirkende Kraft. In der neuen Staatsverfassung sind neben dem Castellano (lateinamerikanisches Spanisch) 36 verschiedene einheimische Sprachen in dem Mehrvölkerstaat (Estado Plurinacional) offiziell anerkannt. Neuerdings gibt es eine autonome Verwaltung auf vier verschiedenen Ebenen: der Departemente, Regionen, Gemeinden und ursprünglichen Gemeinschaften der Indígena. Alle natürlichen Rohstoffvorkommen gehen in die Hände des Staates über; die Erdöl- und Erdgasvorräte sowie deren Gewinne werden vom Staat verwaltet. Die römisch katholische Kirche hat ihren privilegierten Status verloren, da bewusst die Trennung von Staat und Kirche eingeführt wurde (Säkularstaat). Aufgrund dieser neuen Staatsverfassung spricht Evo Morales von einer Refundación del País (Neugründung des Landes). Eine heftige Reaktion der Opposition seitens der Großgrundbesitzer aus Santa Cruz im Osten des Landes, der Unternehmer und anderer konservativer Kräfte, die um ihre Privilegien bangen, konnte wohl nicht ausbleiben. Da sie auch im Besitz der meisten Radio- und Fernsehsender und zudem fast aller Zeitungsverlage sind, ist die öffentlich zugängliche Information stark gefärbt und regierungskritisch. Gemäß der neuen Staatsverfassung hat es in Dezember 2009 (vorgezogene) Präsidentschaftswahlen gegeben, welche die Opposition aus Mangel eines fähigen Kandidaten auf später verschieben wollte. Wiederum hat Evo Morales Ayma mit einem bedeutendem Mehr an Stimmen gewonnen, sodass er als Präsident und der Soziologe und Mathematiker Álvaro García Linera als Vizepräsident nach wie vor mit ihrer Partei MAS (Movimiento al Socialismo) die heutige Regierung bilden und die Geschicke des Landes lenken.

      Zurzeit, d. h. Ende 2013, sitzen Staatspräsident Evo Morales Ayma und sein Vize Álvaro García Linera fest im Sattel; sie bereiten sich sogar bereits auf die Neuwahlen im nächsten Jahr vor. Die Frage um Legitimität oder Verfassungswidrigkeit ihrer Kandidatur für eine weitere fünfjährige Amtsperiode hängt von einer – zwiespältigen – Interpretation der neuen Staatsverfassung ab und spaltet im Moment das Volk. Im Laufe der Zeit hat die Regierung es fertig gebracht, den Spieß umzudrehen und jede Kritik in den Medien zu unterdrücken, ganz nach dem Motto: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. Die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, zwischen offiziellem Diskurs und konkreten Entscheiden treten immer klarer hervor. Dabei geht es vor allem um die Frage, wo man ansetzen soll, um die Entwicklung eines armen, abhängigen Landes mit vielen Rohstoffen aber ohne Eigenkapital anzukurbeln. So verspricht sich die Regierung sehr viel von dem durch Brasilien finanzierten Bau einer Straße mitten durch den Nationalpark Isiboro Securé (TIPNIS). Sie will das bisher kaum zugängliche Gebiet dem wirtschaftlichen Wachstum erschließen, in Tat und Wahrheit aber dem Anbau von Koka-Plantagen Tür und Tor öffnen. Nationale und internationale Umweltgruppierungen wehren sich heftig und versuchen, die dort vorkommende, vielfältige Pflanzen- und Tierwelt zu schützen. Die ansässige indigene Bevölkerung wird manipuliert und ist schlecht informiert, während die Entscheidungen weit weg in La Paz gefällt werden. Ein anderer Widerspruch betrifft den Diskurs über die Pachamama (Mutter Erde) einerseits und die Erdölbohrungen im Urwald des Madidi-Nationalparks andererseits. Schließlich gibt es noch ein weiteres Phänomen, das zu Beunruhigung Anlass gibt. Die zahlreichen neuen, bis zu 40-stöckigen Bauten in La Paz weisen auf Geldwäsche von Narcodolares (Geld aus dem Drogengeschäft) hin, obwohl niemand genau Bescheid weiß. Anscheinend floriert das Drogengeschäft, das wiederum die allgemeine Kriminalität fördert. Die meisten Menschen haben einmal mehr das Vertrauen verloren, die Regierung könne ihnen eine bessere Zukunft verschaffen, aber die Hoffnung auf ein besseres Leben bleibt lebendig.

      Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Umweltbedingungen üben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Menschen aus. In Bolivien lässt sich eine Parallele zwischen der Landschaft einerseits und dem Klima andererseits ziehen, denn beide Elemente weisen extreme Unterschiede auf. Die Landschaft Boliviens besteht aus über 6.000 Meter hohen Bergen, abgrundtiefen Schluchten, einer äußerst kargen Hochebene, trockener Wüste und enormen Salzseen, grünen Tälern, breiten Flüssen und tropischen Wäldern. Es fehlt dem Land nur das Meer, aber die bemerkenswerte Artenvielfalt an Pflanzen und Tieren ist geblieben. Es gibt von April bis September eine trockene, kalte oder sogar eiskalte Jahreszeit und von Oktober bis März eine wärmere oder sehr heiße Regenzeit. Die großen Temperaturschwankungen – Unterschiede von bis zu 20 Grad Celsius innerhalb eines Tages – verursachen viele Krankheiten der Atemwege. Die vier Jahreszeiten, auf die man sich in Europa gut vorbereiten kann, durchlebt man hier ohne Zentralheizung an einem einzigen Tag. Jedes Jahr aufs Neue gibt es in bestimmten Landesteilen zu viel Regen, während es in anderen Teilen zu wenig regnet. Sowohl die regelmäßigen Dürreperioden als auch die Überschwemmungen

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