Trauma und interkulturelle Gestalttherapie. Colette Jansen Estermann

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Trauma und interkulturelle Gestalttherapie - Colette Jansen Estermann IGW-Publikationen in der EHP

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Schafen oder Lamas, und die Preise der Nahrungsmittel schnellen prompt in die Höhe.

      Im Grunde genommen hat Bolivien vor allem Eco-Touristen sehr viel zu bieten; dennoch läuft die Touristenindustrie wegen der schlecht ausgebauten Infrastruktur und der allgemeinen sozialen Unsicherheit nicht an. Obwohl dem Land die enormen Gold-, Silber- und Zinnvorräte geraubt worden sind, verfügt es noch immer über reiche Bodenschätze. Erst neulich ist das Interesse am Abbau von Eisenerz und Lithium erwacht. Das Land hat jedoch nicht die nötigen finanziellen Mittel, um zu investieren und diese Bodenschätze selbst zu verarbeiten. Es exportiert seine Rohstoffe für einen niedrigen Preis und muss die industrialisierten Produkte gegen einen hohen Preis importieren, sodass die Bilanz schlussendlich einen negativen Saldo aufweist. Folglich fehlt es der Staatskasse an Geld, um das mangelhafte Gesundheits- und Erziehungswesen zu verbessern, das bestehende Straßennetz auszubauen, die miserablen Gehälter11 zu erhöhen und eine einigermaßen humane Arbeitslosenunterstützung, Alters-12 und Krankenfürsorge einzuführen. Der Umstand, dass die Einkünfte trotz mehrerer Jobs und der Solidarität innerhalb der Großfamilie niedrig sind, die Ausgaben jedoch bei Krankheit oder Bildungsvorhaben unheimlich schnell anwachsen können, erklärt zu einem Teil die Korruption und Vetternwirtschaft sowie die Gefühle ständiger Sorge und Frustration. In diesem Umfeld sind Ferien oder Freizeitaktivitäten ein Luxus, den sich nur wenige Menschen leisten können.

      Bolivien ist ein Land, wo einerseits alles kopiert wird – von CDs, DVDs, Markenartikeln, Büchern bis hin zu Abschlussarbeiten –, aber andererseits eine außerordentliche kreative Begabung zum Überleben an den Tag gelegt wird. Es beherbergt zahlreiche Gegensätze und Widersprüche, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Dabei scheinen die äußeren Extreme einer inneren Radikalität ausgesprochener Meinungen und angestrebter Ideale zu entsprechen. So führen die bestehenden Feindbilder bzgl. Rasse, sozialer Klasse und regionalen Zugehörigkeit immer wieder zu heftigen Konflikten. Diese heterogene Gesellschaft rollt von der einen Krise in die nächste und bewegt sich ständig am Rand des Abgrundes. Man hat sich daran gewöhnt. Periodisch wird von einem drohenden Bürgerkrieg oder Militärputsch geredet, es hängt eine latente Todesdrohung in der Luft. Dennoch werden die Jahrestage der Heiligen und die Hochzeiten groß gefeiert.

      Nach dem CIA World Factbook hatte Bolivien am 31. Dezember 2007 eine Auslandsschuld von 3.800.000.000 US-Dollar. Die Tilgung dieser Auslandsschuld samt deren Zinsen stellt jedes Jahr den größten Ausgabeposten der Staatskasse dar. In einem Zeitungsartikel in El Deber vom 28. Januar 2007 enthüllte Präsident Evo Morales, dass jeder Bolivianer momentan dank des Schuldenerlasses nur noch 250 Dollar schulde. Diese ›Schuld‹ erzeugt ein Ausgeliefert-Sein und eine Abhängigkeit vom Ausland, den Großbanken und transnationalen Unternehmen und bildet damit sowohl ein ökonomisches wie auch psychologisches Problem. In dieser Situation sind es die ausländischen Regierungen, Institutionen und Konzerne, die schlussendlich über ein Projekt oder einen Kredit entscheiden, woran sie ganz bestimmte Bedingungen knüpfen. Obwohl man in der Theorie keinen Paternalismus oder Erpressung betreiben möchte, stößt man in der Praxis immer wieder auf solche Dynamiken. Schließlich wollen die ausländischen Mächte nicht nur ›gut‹ sein, sondern vertreten auch ihre eigenen Interessen und setzen diese durch. Dabei sitzen die Bolivianer am kürzeren Hebel: Sie müssen nehmen, was sie bekommen können und noch dazu »Danke« sagen.

      In der bolivianischen Gesellschaft existiert eine starke Tendenz, die jeweilige Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozialen Gemeinschaft deutlich hervorzuheben und sich somit von den übrigen Gemeinschaften abzugrenzen. Im gleichen Sinne wird an jeder Schule und Universität das Gemeinschafts- und Identitätsgefühl der Studenten geweckt, z. B. mittels eigener Tanzgruppen, die an öffentlichen Anlässen teilnehmen, oder bestimmter Feindbilder in Bezug auf die anderen. Dieses segmentierte Gesellschaftssystem schafft zwar eine gewisse Ordnung im Chaos und somit eine gewisse Sicherheit, leistet aber auch den Vorurteilen und einem latenten Rassismus Vorschub. Diese Segmentierung scheint als Introjektion innerlich verankert zu sein. Wenn man z. B. arm ist, so meint man, lebenslang arm zu bleiben und bleiben zu müssen.

      In Europa bekommt das Thema der Interkulturalität neuerdings große Aufmerksamkeit, was wahrscheinlich auf die Reisefreudigkeit und Migration unserer globalisierten Welt zurückzuführen ist. Hoffentlich ist sie jedoch mehr als eine Modeerscheinung. Vergleichsweise redet man in Bolivien, vor allem seit der Errichtung des ›plurinationalen‹ Staates, von dem Reichtum der Mannigfaltigkeit (la riqueza de la diversidad). Da es zahllose unterschiedliche Kulturen gibt, die ich nicht hierarchisch als mächtiger oder wichtiger aufgliedern möchte, ziehe ich den Begriff der ›Inter-Kulturalität‹ vor. Das bedeutet konkret, dass ich mich ›zwischen den Kulturen‹ sehe. Ich identifiziere mich mit meiner holländischen Herkunft, die in der westeuropäischen Kultur verwurzelt ist, und trete in einen respektvollen Dialog mit der lateinamerikanischen – insbesondere der bolivianischen, und noch genauer der andinen13 – Kultur. Wenn wir uns ernsthaft auf diesen horizontalen Dialog einlassen, beeinflussen wir uns gegenseitig und sind nach der Begegnung nicht mehr diejenigen, die wir vorher waren.

      Das Führen eines solchen Dialoges ist aber keineswegs problemlos, erzeugt vielfach Missverständnisse, Frustrationen, Irritationen und Ohnmacht. Denn manchmal gelingt es trotz größter Anstrengung nicht, den interkulturellen Graben der Andersartigkeit zu überbrücken. Mir erscheint es wie ein Ausdruck der Arroganz zu meinen, nach einem Aufenthalt von sechs Monaten in dem Land kenne man seine Kultur und verstehe die Menschen. Vor allem in den Supervisionsstunden mit kürzlich eingereisten Fachpersonen aus Europa, die intensiv auf ihre Zeit in Bolivien vorbereitet wurden, sind die Anpassungsschwierigkeiten, die keineswegs unterschätzt werden dürfen, ein Thema. Es kommt mir oft vor, als hätten sie in den Vorbereitungskursen zwar von der Andersartigkeit ›gehört‹, sie aber trotzdem nicht ›verstanden‹, weil ihnen noch die Erfahrung gefehlt hat. Anscheinend muss Interkulturalität erlebt werden, um verstehen zu können, was ich meine. Es braucht ein großes Maß an Flexibilität und Vertrauen, um die verunsichernde Anfangszeit in einem fremden Land auszuhalten. Im Grunde genommen begegnet man in dieser schwierigen Etappe nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst. Anschließend braucht es viele Jahre, um einige Sachen verstehen zu lernen und in anderen Sachen fremd zu bleiben.

      Viele interkulturelle Aktivitäten finden allerdings noch immer unter dem Diktat europäischer oder nordamerikanischer Vorstellungen statt, wobei es vorrangig um deren Interessen oder Kriterien geht. Deren weltweite Vorherrschaft ist nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet bestimmend, obwohl China diese Machtverhältnisse allmählich ins Wanken bringt. Aufjeden Fall spielt ein sogenanntes Dritte-Welt-Land wie Bolivien keine ernst zu nehmende Rolle auf dem Marktplatz Welt. Bei dem Unterfangen, in Bolivien eine Dissertation zu schreiben, wobei ich selbstverständlich den geltenden wissenschaftlichen Normen genügen sollte, bin ich auf einen rigiden Europa- oder USA-Zentrismus gestoßen. Die Realisierung des Forschungsprojektes wurde von mehreren strukturellen Schwierigkeiten erschwert, die nicht beseitigt werden konnten, aber unentwegt im Auge behalten werden mussten.

      So stellt ein Fachbuch oder eine Zeitschrift einen Luxus dar, den sich kaum jemand in La Paz oder El Alto leisten kann. Folglich gibt es in beiden Millionenstädten keine einzige Buchhandlung, die sich auf Fachliteratur spezialisiert hat. Nur zwei Personen der zehnköpfigen Forschungsequipe haben zu Hause einen Computer, aber niemand hat einen privaten Internetanschluss: sie gehen ab und zu in ein Internetcafé. Da sie eine staatliche Schule besucht haben, sind ihre Englischkenntnisse rudimentär, irgendwelche Deutschkenntnisse gar nicht vorhanden, sodass sie sowieso keinen ausländischen Wissenschaftsbericht lesen können. Während die Equipemitglieder die Studenten nach ihren traumatischen Erfahrungen fragten, waren sie selbst auch in einem bestimmten Maß sowohl direkt als indirekt14 von den potenziell traumatisierenden Ereignissen betroffen. Hinzu kam der Mangel an Sicherheit auf allen Ebenen, der eine genaue und detaillierte Planung unmöglich machte, während der Anspruch auf Effizienz und Zeitmanagement bloß heftige Gefühle der Frustration ausgelöst hätte. In der Zeitspanne von 2007 bis 2009 gab es wegen der soziokulturellen und politischen Umwälzungen große Unruhen unter der Bevölkerung

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