Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung. Hieronymus Cardanus
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Mein Alter, mein Charakter, die überstandenen Sorgen und günstige Gelegenheiten verführten mich, das neue, frohe Leben ganz auf Genuss und Vergnügen einzustellen. Frühmorgens absolvierte ich meine Vorlesungen, wenn ich gerade, wie zuerst in Mailand und später viel häufiger noch in Pavia, solche zu halten hatte; dann spazierte ich im Schatten draußen vor den Mauern der Stadt, frühstückte, trieb Musik, ging dann bei den Hainen und Wäldern in der Nähe der Stadt zum Fischen, las, schrieb und zog mich am Abend in mein Haus zurück. Sechs Jahre dauerte diese glückliche Zeit, dann aber, ach, hieß es bald: »Entschwunden sind die Tage63, da heiter die Sonne dir strahlte«, wie der Dichter sagt. Eine bittere Einkehr gab es nach einem langen, ehrenvollen Wege. Fahrt wohl, gewonnenes irdisches Glück und stolze Ehren, du eitles Buhlen um Ruhm, unzeitiges Genießen! Mich selbst habe ich vergeudet und zugrund gerichtet; drängende Sorgen und schwere Mühsale wuchsen wieder gleich dem Schatten eines Taxusbaumes, wie das Sprichwort sagt. Nirgendwo blieb mir ein anderer Trost als der, der zum Tode führt. Doch Glückseligkeit kann in solchem Tun nicht liegen, sonst wären ja wohl die Tyrannen, die am fernsten dem wahren Glücke stehen, die glückseligsten! – Wenn ein Stier im wildesten Ungestüm mit verbundenen Augen seines Weges rast, so muss er unfehlbar bald wider eine Mauer rennen und stürzen. So rannte denn auch ich wider eine Mauer64 und stürzte. Inzwischen, noch vor dieser Sache, traf mich das unselige Geschick meines ältesten Sohnes. Einige seiner Richter haben eingestanden – ich glaube freilich, sie wollten nicht, dass man dies Geständnis auf sie selbst beziehe, – sie hätten ihn nur deshalb verurteilt, dass ich aus Schmerz darüber sterben oder doch den Verstand verlieren sollte. Wie wenig ich davon entfernt war, wissen die Götter, und ich selbst will am gegebenen Ort65 davon erzählen. Erfüllt hat sich freilich ihr Wunsch nicht. Ich will – darum habe ich dies so nebenbei mitgeteilt —, dass der Leser sehe, was dies für Zeiten, für Sitten sind! Weiß ich doch gewiss, dass keiner dieser Leute je von mir, auch nicht einmal von meinem Schatten, ist gekränkt worden. Ich habe mich damals, so gut es ging, auf eine Verteidigungsrede für meinen Sohn vorbereitet. Doch was konnte sie nützen gegenüber so feindselig erbitterten Richtern? Ich selbst war ganz gebrochen von schmerzlichem Mitleid mit dem Elend meines Sohnes, zitterte angstvoll vor dem, was ihm noch drohte, war wie gelähmt durch das Unglück, das über mich hereingebrochen, und bangte vor dem, was noch kommen sollte. Und doch sprach ich, begann damit, das Gericht an seine oft bewiesene Menschlichkeit und Billigkeit, an einzelne Beispiele seines Mitleids zu erinnern. Ich erwähnte die Milde, die der Senat damals in der Sache des Notars Giovanni Pietro Solari bewiesen hatte, dessen unehelicher Sohn überführt worden war, seine beiden legitimen Schwestern vergiftet zu haben, nur um ihr Vermögen zu erben; man begnügte sich damals, ihn zu den Galeeren zu verurteilen. Ich erwähnte auch, dass damals das Gericht beim Verhör dem Angeklagten lobend zugestand, dass er doch den eignen Vater nicht ermordet habe. Und dann fuhr ich fort: »Was wäre das für eine Grausamkeit, mich, den unschuldigen, altersschwachen Vater, in meinem Sohne zu töten! Wenn damals der Vater der Gunst einer Milderung für würdig erachtet wurde, als sein Sohn zum Tierkampf verurteilt war[?]66, um wie viel mehr heute, wo es sich um ein anderes, leichteres Vergehen handelt? Was vermögen künftighin alle Verdienste der Menschheit, wenn die schönste Tugend, die Unschuld, so schwer getroffen wird? Ist es denn nicht viel ärger, den Vater mit seines Sohnes, als mit seinem eigenen Tode zu bestrafen? Werde ich getötet, so stirbt nur einer, der doch gar bald auch so ohne weitere Leibesfrucht sterben würde. Tötet ihr aber meinen Sohn, so raubt ihr mir die Hoffnung auf Leibeserben. Beredet euch, die ganze Menschheit flehe euch an für den Sohn dessen, dem alle sich verschuldet fühlen: für einen zornerregten hitzigen Jüngling, der unter so vielen Widerwärtigkeiten leidet, den die größte Schmach getroffen hat, von seinem Weib betrogen worden zu sein, das er ohne Heiratsgabe genommen hat, von einem verdorbenen, schamlosen Weibe, dem er sich wider Wissen und Willen seines Vaters vermählte – was würdet ihr tun? Doch freilich, niemand fleht für ihn, niemand kennt sein Unglück?! Und keiner kann doch so sehr mein oder meines Sohnes Todfeind sein, dass er nicht gerne dem das Leben schenkte, dessen Tod die Teufel selbst zu Mitleid rühren würde.« Dies und anderes der Art brachte ich vor; was ich erreichte, war einzig und allein der Gerichtsbeschluss, dass man sein Leben schonen werde, wenn es ihm gelinge, von den Verwandten seiner Frau Verzeihung zu erlangen. Dies vermochte er nicht; der Tor hatte mit Reichtümern geprahlt, die ich nicht hatte, und seine Verwandten forderten Summen, die ich nie zahlen konnte.
Doch lassen wir dies alles! Von früher Jugend an hielt ich stets den Beruf für den besten, der für das Leben selbst sorgte. Von diesem Gesichtspunkt aus schien mir das Studium der Medizin förderlicher zu sein als das der Jurisprudenz. Und ich fand, dass es nicht nur diesem Zwecke näher steht und auf der ganzen Erde und zu allen Zeiten gleich gültig und wertvoll, sondern auch ehrlicher und reiner ist und dass es auf der Vernunft, dem ewigen Gesetze der Natur, und nicht wie die Jurisprudenz auf den vorübergehenden Meinungen der Menschen ruht. Darum ergriff ich den Beruf des Arztes, nicht den des Juristen; auch deshalb vor allem, weil ich, wie ich schon gesagt habe, die Förderung durch Freunde, Mittel, Macht und Ehren nicht bloß verachtete, sondern floh. Mein Vater freilich, als er merkte, dass ich mich vom Studium der Jurisprudenz abwandte und zu dem der philosophischen Disziplinen neigte, weinte in meiner Gegenwart und klagte darüber, dass ich nicht dieselben Studien wie er betreiben wolle. Er hielt nämlich die Jurisprudenz für eine vornehmere Disziplin – und zitierte auch dafür mit Stolz eine Stelle aus Aristoteles –, eine Disziplin, die auch viel geeigneter sei, Geld und Macht zu erwerben und vor allem auch die ganze Familie in die Höhe zu bringen. Auch schmerzte es ihn, dass er sein juristisches Lehramt in Mailand, dessen er sich schon seit vielen Jahren erfreute und das ein Honorar von 100 Scudi abwarf, nicht auf mich vererben könne, wie er gehofft hatte, sondern einst einen fremden Nachfolger auf seinem Lehrstuhle sehen müsse und dass auf diese Weise seine Kommentarienwerke nicht vollendet, noch von mir herausgegeben werden sollten. Kurz zuvor nämlich hatte in seinem Kopfe die Hoffnung auf ewigen Ruhm aufgeleuchtet; er hatte eine verbesserte Neuausgabe des Werkes des Erzbischofs John67 von Canterbury über Optik und Perspektive vorbereitet und hoffte, in diesem Buche sollten einst, mit Lettern gedruckt, die Verse stehen:
»Stolz nennt diesen das Haus der Cardani sein eigen. Es wusste Alles der Eine. Nicht kennt seinesgleichen die Zeit.«
Diese Weissagung galt freilich mehr denen, die einst auf seine Arbeit sich stützend Erfolge haben sollten, als ihm selbst, der zwar die Jurisprudenz, wie ich erfuhr, ganz vorzüglich beherrschte, in der Mathematik aber nicht über die Anfänge hinauskam, nichts Neues darin erdacht, auch nichts aus dem Griechischen übersetzt hat. Daran war freilich mehr der stete Wechsel in seinen wissenschaftlichen Arbeiten und die Unbeständigkeit seiner Pläne schuld, als dass er von der Natur mit Gaben kärglich ausgestattet, träge oder von geringer Urteilskraft gewesen wäre, Mängel, von denen er durchaus frei war.
In mir aber waren damals mein Wunsch und mein Vorsatz unerschütterlich fest gewurzelt, vielerlei Gründe sprachen dafür, auch sah ich wohl, dass auch mein Vater durchaus nicht ohne Schwierigkeiten und Hindernisse seinen Weg gemacht hatte. Deshalb und auch aus anderen Gründen blieb ich seinen Mahnungen gegenüber unbewegt.
ELFTES KAPITEL
Lebensklugheit
Bisweilen