Der Hauch der Ewigkeit. Rosina-Fawzia Al-Rawi
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Sidi kommt aus der Tradition der Šāduliyya–Schule, einer sehr verbreiteten Sufischule, die nach dem großen Sufilehrer Abu Al–Ḥasan Aš–Šādulī benannt ist. Sein Meister war der bedeutende marokkanische Sufimeister ‘Abd As–Salām ibn Mašīš. Durch ihn initiiert, verbreitete er sein Wissen vor allem in Tunesien und Ägypten, wo er auch 1258 begraben wurde.
Die Šāduliyya–Schule ist kein spektakulärer Weg, die äußeren Handlungen sollen ausgewogen, moderat und harmonisch sein und im Inneren soll die/der Suchende durch Gedenken das Herz mit Allāh verbinden. Eine der Grundbedingungen für diesen Weg ist, im Leben zu stehen, einen Beruf, eine Familie, eine Gemeinschaft zu haben und den inneren Entwicklungen in den äußeren Handlungen und Taten Ausdruck zu geben. Es ist nicht so schwer, ausgewogen, würdevoll und friedlich in einer abgeschiedenen Höhle zu sein, doch diese Qualitäten unter den Menschen zu halten und zu leben, das erfordert Großmut, Gelassenheit, Vertrauen, Selbstüberwindung, Selbstbeherrschung, sowie Reflexion, Kontemplation und tiefe Liebe. Zu lernen, aus unserem tiefen Sein zu schöpfen, die Dinge von innen zu sehen, in ihrer Urbeschaffenheit und in der Einheit, erfordert eine tiefe Transformation. Denn das Ich sieht die Dinge gerne von außen und in ihrer Zufälligkeit und demzufolge auch außerhalb des Göttlichen.
WAS IST SUFISMUS?
Der Sufismus ist ein Weg, der den Menschen eine Methode lehrt zur Entdeckung des eigenen Seins, der eigenen Talente und Potenziale, zur Auffindung der eigenen wahren Realität, des eigenen Wunders.
Es ist kein theoretisches System, das durch Schlussfolgerungen oder Betrachtungen erreicht wird, sondern es ist ein zu erfahrender Weg, offenbart und vorgelebt von den Gesandten und Propheten, ein Weg, durch den diese den Zustand absoluter Erkenntnis erreichten.
In uns Menschen bestehen gleichzeitig zwei Kräfte, zwei Sehnsüchte: eine vertikale und eine horizontale. Die eine ist die Liebe zu Gott, und die andere die Liebe zum Menschen, zur Schöpfung.
Schwankend, verwirrt und verloren ist der Mensch, wenn er nicht weiß, wo er steht, wenn er ziellos durchs Leben geht und immer nur japsend auf die äußeren Situationen reagieren muss. Täglich gehen wir durch eine Palette von Zuständen: mal sind wir offen und freundlich, mal genervt und ängstlich, mal heuchlerisch und wiederum ehrlich, mal ängstlich, mal mutig, mal tief zufrieden, dann wieder unglücklich, mal weitherzig, mal kleinlich, mal berechnend, mal großzügig. Wofür und warum all diese Bewegungen, was mache ich damit, was soll das Ganze und wo liegt der Sinn?
Je mehr man Gott erkennt, desto mehr liebt man Ihn, und den Menschen erkennt man vor allem, wenn man ihn liebt. Es sind die Nächstenliebe und das Mitgefühl, die die elementarsten Ausdrücke unserer Bewegung auf die Ganzheit zu sind. Sie haben die Kraft, die Ketten der Isolation zu sprengen und die trotzigen und leidenschaftlichen Trennungen zwischen mir und dem anderen, dem Rest der Welt, aufzuheben. Sie reinigen das Herz und befreien den Geist von den Ich–bezogenen Hindernissen. Die Nächstenliebe bringt die Beseitigung der Ichsucht mit sich. Sie ist die Ausdehnung, die stattfindet, wenn sich das Herz von den dunklen Flecken der Gier, des Neides und der Arroganz reinigt. Denn Nächstenliebe und Mitgefühl für alle Lebewesen sind die Grundlagen wahrer Moral.
Wir Menschen sind „nichts“ vom herkömmlichen und trennenden Blickpunkt aus gesehen und „alles“ vom Blickpunkt der Einheit, der Göttlichen Wirklichkeit. Ganzheit ist Vollkommenheit und wir sind ein Teil davon, ein Teil der Schöpfung. Gott gegenüber sind wir „nichts“ oder „alles“, je nach Anschauung. In Bezug auf das Universum sind wir Teil, Teil dieser erschaffenen Vollkommenheit. Die Ganzheit pulsiert in unserer Mitte, ein himmlisch–Göttlicher Kern, dessen äußerste Peripherie das Ego ist.
Das Ziel der Sufis ist es, sich in der Peripherie des Egos die Göttliche Mitte zu vergegenwärtigen und gleichzeitig nach der eigenen Ganzheit zu suchen. Es ist der Weg vom Exil in die Heimat, zur Mitte, zu meinem wahren Selbst, durch das Erkennen der Ganzheit der Existenz. Weg und Mitte sind hier die Orientierungen.
Das größte Geschenk an den Menschen ist die Erkenntnisfähigkeit. Der Prophet Muhammad, Allāhs Friede und Heil seien mit ihm, hat gesagt: „Gott hat nichts Edleres als das Erkenntnisvermögen geschaffen, und sein Zorn fällt auf den, der es verachtet“.
Die Erkenntnisfähigkeit ist dem Menschen gegeben, die Verführung folgt stets auf der Ebene des Willens. Der Wille ist der Wind – verweilt er im Göttlichen Willen, so widerspiegelt er klar den ewig vollkommenen ruhigen See in uns. Ist der Wind durch Turbulenzen des Egos gestört, wird auch der Widerschein der Sonne gestört und die Göttliche Spiegelung verzerrt. Das Böse oder die Disharmonie ist nicht das Gegenteil von Gott, sondern befindet sich im Widerstand zu Allāh. Alles besteht aus und kommt von derselben Quelle. Das Göttliche beinhaltet beides, schwarz und weiß, männlich und weiblich.
Das Konzept der Dualität existiert, um uns besser in dieser Welt zu orientieren, doch nicht, um darin gefangen zu bleiben. Denn die Dualität besteht in dieser Welt nur, um uns in die Einheit zu führen. Die Dualität ist eine Welt der augenscheinlichen Gegenpole, die sich ergänzen, sie sind keine „wahren“ Gegensätze. Alles ist miteinander verwoben, alles ist ein untrennbares Energiemuster.
Die Verwendung und Vertiefung in die Göttlichen Namen, vor allem die „Gegenpolnamen“ wie z. B. Aḍ–Ḍār / An–Nāfi‘ „Der Erschaffer des Schadens“ / „Der Erschaffer des Nützlichen“ oder Al–Qābiḍ / Al–Bāsiṭ „Der Zusammenziehende“ / „Der Ausbreitende“, helfen uns, den linearen Verstand zu transzendieren und die Verbundenheit aller Dinge als Realität zu erfassen. Der Sufi sucht Zuflucht im Göttlichen, bis er sowohl bei dem einen wie auch dem anderen Namen, sowohl bei den leicht zu tragenden wie bei verworrenen Situationen, nur mehr „Geliebter“ ausrufen kann, weil alles mit der Weisheit des Herzens erkannt und aufgenommen wird. Je tiefer und weiter unser Bewusstsein wird, je mehr wir uns aus der Abschnürung des Ichs befreien, desto mehr begreifen wir diese Realität.
Der Weg dorthin besteht in der Annäherung der Peripherie des Ichs an die Mitte des wahren Seins. Die vielfältigen äußeren Manifestationen sollen uns helfen, den Weg zur inneren Dimension anzugehen, wo alles in der Einheit mündet, stirbt und wiedergeboren wird.
Die ausgewogene Mitte zu finden zwischen den beiden Kräften, die wir in uns tragen, ist der Weg der Sufis. Wir sind einerseits himmlische, andererseits irdische Wesen. Himmlisch wie die Engel, nur zu Gutem fähig, im Lobpreis des Einen verweilend und irdisch wie die Tiere, die ihren Trieben und Bedürfnissen folgen. Für beide – Engel und Tier – ist dieser Weg, sind ihre Gaben bestimmt, und sie beide können nicht anders.
Wir Menschen aber sind mit dem Erkenntnisvermögen, also mit der Fähigkeit des Verstandes, der Reflexion, beschenkt und sind daher auch mit der Aufgabe und Bürde der freien Wahl beerbt. Wir sind uns unserer selbst und unserer Taten bewusst und tragen daher die Konsequenzen unserer Handlungen. Wenn wir uns zu unserem wahren, tiefen Göttlichen Sein hinwenden, mit all dem Ringen, das damit verbunden ist, steigen wir aufgrund unserer bewussten Entscheidung höher als die Engel, und wenn wir uns für unsere Triebe und eigennützigen Ich–bezogenen Bedürfnisse entscheiden, sinken wir tiefer als tierisches Leben.
In dieser bewussten Entscheidung und großen Anstrengung liegt die Würde des Menschen. Stetig Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug das Ego einnehmend, verwandelnd und mehr und mehr, tiefer und tiefer mit den Göttlichen Eigenschaften sich einfärbend, gelangt der Mensch zu seiner wahren Bestimmung, zu seiner wahren Natur. Dafür ist es wichtig, sich selbst kennenzulernen, um die richtigen und effizienten Methoden anzuwenden, die uns zu unserem wahren Sein, zur Liebe, zum Sinn unserer Existenz führen, zum Großen Geliebten in und um uns und jenseits von Allem!
Rumi umschreibt den Menschen so treffend:
„Ein