Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

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Schweizerische Demokratie - Sean Mueller

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der freisinnigen Mehrheit die Initiative für nationale Projekte im jungen Staat. Die katholischen Stammgebiete waren vorwiegend ländlich und noch wenig berührt von den industrialisierten Gebieten der fortschrittlich-protestantischen Mehrheit. 1871 wandte sich das Erste Vatikanische Konzil gegen die Säkularisierung, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowie die Trennung von Kirche und Staat und versuchte, die Stellung des Papstes als verbindliche Autorität in allen Lebensbereichen auszubauen. Die politische Rückzugshaltung der Katholiken verstärkte sich zur Segregation und zur Herausbildung einer «katholischen Sondergesellschaft» (Altermatt 1989:97 ff.): In den Jahren nach der Gründung des Bundesstaates hatten die katholischen Kantone ihr konfessionelles oder von der Kirche geleitetes Erziehungswesen schrittweise ausgebaut; 1889 kam mit der Universität Freiburg eine katholische Hochschule dazu. Ein dichtes Netz sozialer und vorpolitischer Organisationen hielt Katholiken jeglicher Schicht zusammen und sicherte die Nähe zur Kirche – auch in der schweizerischen «Diaspora», wo sie in der Minderheit waren. Die Katholiken bauten nicht nur ihre Partei und ihre eigenen Gewerkschaften auf, sondern ebenso ihre Zeitungen und Buchhandlungen. In gemischten Gebieten wussten sie, welches der katholische Metzger, Schlosser, Schreiner war. Sie gingen in «ihr» Gasthaus und kauften loyal katholisch ein, selbst wenn die Qualität des protestantischen Konkurrenten besser war. Diese Art von Segregation fand sich auch auf der anderen Seite, wenngleich nicht im selben Ausmass: Der protestantischen Schweiz fehlte die politische Führung durch eine konfessionelle Partei, die, wie auf der katholischen Seite, alle sozialen Schichten auf einer gemeinsamen Basis zusammengefasst hätte. Vor allem aber widersprach eine gesellschaftliche Segregation auf religiöser Grundlage dem Anliegen des freisinnigen Laizismus selbst: Dieser wollte die Trennung von Kirche und Staat und deklarierte den religiösen Glauben als Privatsache. So war das Ziel des Freisinns nicht eine protestantische Segregation, sondern die Bekämpfung der gesellschaftlich dominierenden Rolle der Kirche, wie sie die romtreuen Katholiken anstrebten. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich der konfessionelle Konflikt zuspitzte – vor allem in den paritätischen Kantonen. Die Geschichtsbücher sprechen dabei vom Kulturkampf, in welchem es zwar in der Sache weniger um die Konfession selbst als um die Gegensätze zwischen dem (katholisch-konservativen) Lager der Kirchentreuen und dem (protestantisch-freisinnigen) laizistischen Lager ging. Trotzdem vertiefte sich die gesellschaftliche Spaltung den Konfessionen entlang, und es mag kein Zufall sein, dass die Bundesstadt Bern das Zentrum der Christkatholischen Kirche wurde, die sich in vielen Ländern als Abspaltung nach dem Ersten Vatikanum bildete: Der Freisinn sah darin ein willkommenes «Anti-Rom» gegen die unzuverlässigen «Ultramontanen», also romtreuen Katholiken.

      Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 fiel in die Zeit des Kulturkampfs. Die freisinnige Mehrheit setzte dabei ihren laizistischen Standpunkt konsequent durch und diskriminierte die katholische Minderheit in einigen Verfassungsbestimmungen (siehe Kasten 2.3). Erst hundert Jahre später wurden die beiden diskriminierenden Verfassungsartikel (Jesuiten- und Klosterverbot) durch Volksabstimmungen aufgehoben. 2001 haben Volk und Stände schliesslich der Aufhebung der letzten konfessionellen Ausnahmebestimmung in der Bundesverfassung, des sogenannten Bistumsartikels, zugestimmt. Bis es aber so weit war, vergingen vier Generationen, und der Konfessionskonflikt wurde dabei weit weniger durch politische Aktion «gelöst» als durch die Entwicklung abgekühlt.

      Die gesellschaftliche Entwicklung hat diese Abkühlung des Konfessionskonflikts in vielfacher Weise unterstützt. Der Modernisierungsprozess wirkte der Segmentierung zwischen Katholiken und Protestanten entgegen. Die Migration über konfessionelle Grenzen hinweg führte zu gemischten Kantonen, Städten und Gemeinden, aber auch zur stärkeren Verbreitung von Mischehen. Das wiederum förderte Toleranz und Zusammenarbeit. Die geringere politisch-konfessionelle Polarisierung begünstigte pragmatische Lösungen im sozialen Leben: In kleineren Gemeinden, wo zwei Gotteshäuser zu teuer wurden, benutzen heute Katholiken und Protestanten die gleiche, «paritätische» Kirche. Die katholische Gesellschaft nahm vermehrt an der Industrialisierung teil; nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand ihre wirtschaftliche und soziale Sonderstellung. Katholisches «Ghetto» und «Milieu-Katholizismus» lösten sich auf und gaben Raum für die Entwicklung eines weltoffenen politischen Katholizismus. 1971 änderten die Katholisch-Konservativen ihren Namen in «Christlichdemokratische Volkspartei». Mit der Akzeptanz der Trennung von Kirche und Staat und einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft vollzog die CVP in der Nachkriegszeit ähnliche Wendungen des politischen Katholizismus wie die Christlich-Demokratische Union (CDU) in Deutschland oder die Democrazia Cristiana (DCI) in Italien.

      Die Verfassungsrevision von 1874 war stark vom Kulturkampf geprägt, welcher seinen Höhepunkt um 1870 erreicht hatte. Die liberale Verfassung von 1874 zielte auf einen laizistischen Staat und entband die Kirche von allen öffentlichen Funktionen. Mehrere ihrer Bestimmungen belegen den antiklerikalen Charakter des freisinnig dominierten Staats und vereinzelt auch die Diskriminierung der Katholiken. Streitpunkte, die im Sinne der laizistischen Mehrheit gelöst wurden:

       Jesuitenverbot (Art. 51 der alten Bundesverfassung von 1874 [aBV], 1973 aufgehoben)

       Verbot neuer Orden und Klöster (Art. 52 aBV, 1973 aufgehoben)

       Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes (Art. 50.4, 72.3 BV, 2001 aufgehoben).

       Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden (Art. 53 aBV).

       Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes (Art. 54 aBV).

       Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft (Art. 58 aBV).

       Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll (Art. 27.1 aBV).

       Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können (Art. 27.3 aBV).

       Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich (Art. 49 aBV).

       Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet (Art. 50 aBV).

      Soweit diese Bestimmungen nicht aufgehoben wurden, sind sie heute auf der tieferen Gesetzesebene oder nur in allgemeiner Form in der neuen Verfassung festgeschrieben: Das Verhältnis von Kirche und Staat wird in Art. 72 geregelt, das Recht auf Ehe und Familie in Art. 14, die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 15, Schule und Schulhoheit in Art. 19, 62 und 66 (Rhinow 2000; BV 1999).

      Entscheidend neben der gesellschaftlichen Entwicklung aber war die Integration der Katholiken auf der politischen Ebene. Dazu trug zunächst der Föderalismus bei. Er liess die katholischen Kantone ihre eigene Kultur bewahren, und dies sogar dort, wo der Bund eigene Kompetenzen besass. Obwohl den Freisinnigen z. B. das Monopol des öffentlichen Schulwesens wichtig war, erlaubte die Kantonsautonomie keine einseitige, hoheitliche Durchsetzung des Bundesanspruchs: Noch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in einzelnen Kantonen konfessionell getrennte Schulen. Auch die Trennung von Kirche und Staat wird bis heute kantonal unterschiedlich konsequent gehandhabt. Vor allem aber gewann die katholische Minderheit schrittweise Einfluss im Bund. 1848 blieb sie Minderheit im Parlament (National- und Ständerat), und der Freisinn besetzte während Jahrzehnten alle sieben Bundesratssitze. Nach der Einführung des fakultativen Referendums 1874 brachten die Katholisch-Konservativen allerdings zahlreiche Gesetze und Beschlüsse zu Fall. Von da an brauchte der Freisinn die Unterstützung der Konservativen, um Erfolg für bestimmte Vorlagen zu haben, und trat ihnen dafür 1891 einen ersten Bundesratssitz ab (Bolliger/Zürcher 2004). 1918 erreichten die Katholiken zusammen mit den Sozialdemokraten die Einführung des Proporz-Wahlsystems für den Nationalrat,

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