Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

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und Sardinien zu erhalten. Nach erfolglosen Vorstössen zur Änderung des Bündnisses von 1815 verliessen die katholischen Kantone 1846 die Tagsatzung. Das wurde den Sonderbundskantonen als Sezession ausgelegt. Die protestantischen Kantone intervenierten 1847 mit ihren Truppen. In einem kurzen Bürgerkrieg und nach 26 Kampftagen mit etwa hundert Toten waren die Sonderbundskantone besiegt.

      Für die siegreichen Freisinnigen war der Weg nun frei für ihr Vorhaben, einen Bundesstaat auf der Grundlage einer nationalen, demokratischen Verfassung einzurichten. Dessen Grundzüge waren:

      1. Eine Staatsbildung von unten: Der Übergang vom Staatenbund zu einem schweizerischen Bundesstaat, in welchem die 25 Kantone alle Hoheitsrechte und Aufgaben behielten, die sie nicht ausdrücklich dem Bund übertrugen.

      2. Die Beschränkung der Bundesgewalt auf wenige Aufgaben, so vor allem die Wahrung der Unabhängigkeit, die Vereinheitlichung von Zoll, Mass und Gewicht oder das Postwesen.

      3. Das Prinzip des Föderalismus, das in den Angelegenheiten des Bundes jedem Gliedstaat eine gleiche Stimme unabhängig von seiner Grösse einräumte.

      4. Die Einrichtung einer demokratischen Grundordnung mit Exekutive und eigenem Parlament, mit Grundrechten, Gewaltentrennung und freien Wahlen, deren Minimalanforderungen auch für alle Kantone verbindlich erklärt wurden.

      Der Verfassungsvorschlag wurde 1848 der Volksabstimmung unterbreitet. Da ein schweizerisches Staatsvolk noch nicht existierte, oblag die Abstimmung den Kantonen im Rahmen ihrer eigenen politischen Ordnung. So entschied in Freiburg und Graubünden das kantonale Parlament «im Namen des Volkes». In Luzern kam die Zustimmung des Kantons dadurch zustande, dass die freisinnige Regierung jene dreissig Prozent, die der Urne fernblieben, den Ja-Stimmen zurechnete. Für den Zusammenschluss vom Staatenbund zum Bundesstaat wäre eigentlich – gemäss den Regeln des Staatenbunds – die Einstimmigkeit der Kantone erforderlich gewesen, die sich als «souverän» betrachteten. Die freisinnige Mehrheit definierte die Regeln aber anders: Sie liess es bei der unbestimmten Formel einer «genügenden Mehrheit» bewenden. Nachdem zwei Drittel der Kantone zugestimmt hatten, gab die Tagsatzung am 12. September 1848 bekannt, dass die Bundesverfassung von einer grossen Mehrheit angenommen worden sei (Kölz 1992:608–610; Ruffieux 1983a:10 f.).

      Die Schaffung des Bundesstaats von 1848 ist nicht selten als «revolutionär» bezeichnet worden. In der Tat: Im europäischen Umfeld des 19. Jahrhunderts war die Einrichtung eines föderalistisch-republikanischen Verfassungsstaates auf der Grundlage der Volkssouveränität ein einzigartiger Vorgang. Ebenso widersprach ein Zusammenschluss unterschiedlicher Völker dem Zeitgeist. Während sich nämlich die nationalen Vereinigungen Deutschlands (1866–71) oder Italiens (1860–70) unter der Devise einer gemeinsamen Kultur, eines «Staatsvolks», vollzogen, gab und gibt es in der Schweiz kein Staatsvolk gleicher Ethnie, Sprache, Religion oder Kultur.3 In der Bundesverfassung von 1848 sucht man deshalb den Begriff des Staatsvolks vergeblich. Ihr erster Artikel lautete: «Die durch gegenwärtigen Bund vereinigten Völkerschaften der zwei und zwanzig souveränen Kantone … bilden in ihrer Gesamtheit die schweizerische Eidgenossenschaft.» Es sind also die Kantone als Gliedstaaten, die den Bund konstituieren. Mit 1848 beginnt die Schweiz als eine multikulturelle Nation (Richter 2005:88 ff.).

      Diese Zusammenführung verschiedener Kulturen kantonaler Kleingesellschaften zur gesellschaftlich-politischen Einheit ist von ähnlicher Bedeutung wie die Einrichtung der Demokratie. Der vom Staatsrechtler Carl Hilty betonte Begriff der «Willensnation» hat hier seine Berechtigung, besonders wenn man sich die Schwierigkeiten der Staatsgründung vergegenwärtigt. Denn innerhalb der politischen Lager der widerstrebenden Konservativen und des staatsgründenden Freisinns versteckte sich eine Reihe von gesellschaftlichen Gegensätzen und Konflikten, die noch zu überwinden waren. Es gab erstens ein voraussehbares Minderheitenproblem für die Französisch, Italienisch und Romanisch sprechenden Volksteile, denen eine deutschsprachige Mehrheit von 70 Prozent der Bevölkerung gegenüberstand. Wegen dieser sprachlichen und religiösen Teilung mussten die Minderheiten befürchten, in einem Nationalstaat zurückgesetzt zu werden. Zweitens unterschieden sich die ökonomischen Strukturen der Kantone grundlegend voneinander. Einzelne Regionen waren Orte früher Industrialisierung. Diese forderten den weiteren Abbau von Handelshemmnissen, was aber den Interessen des Konkurrenzschutzes der Agrarkantone (aber auch der Zünfte einzelner Städte wie Basel) entgegenlief. Drittens waren einzelne Kantone intern wenig integriert oder zerbrachen gar an internen Konflikten. In Basel zum Beispiel war die Stadt zu lange nicht bereit, ihre politische Vorherrschaft über die umliegenden Gebiete aufzugeben. Als ein Kompromiss über die Vertretung beider Teile im Parlament scheiterte, spalteten sich Stadt und Landschaft in zwei unabhängige Halbkantone.4

      Die gesellschaftlichen Spaltungen zwischen Sprache, Religion, Zentrum-Peripherie sowie Stadt und Land finden sich zwar überall auf den historischen Landkarten Europas. Die Politologen Lipset und Rokkan (1967) haben auf ihre generelle Bedeutung für die modernen Staatsgründungen in ganz Europa hingewiesen. Die Frage lautet aber für uns: Warum haben die schweizerischen Kantone angesichts ihrer Spaltungen und ihrer divergierenden Interessen überhaupt zu einer Staatsgründung gefunden? Mindestens so wahrscheinlich wie die Bildung eines modernen Territorialstaats wäre gewesen, dass sich die Kantone in ihren gegenseitigen und internen Machtkämpfen blockiert hätten, um vielleicht eines Tages von der Landkarte zu verschwinden. Was also brachte die Kantone zu einem demokratischen Nationalstaat zusammen? Unserer Ansicht nach waren fünf Faktoren ausschlaggebend.

      Mitte des 19. Jahrhunderts war bereits eine beachtliche Anzahl der Kantone industrialisiert. Die Nutzbarkeit der Wasserkraft entlang der Flüsse begünstigte eine dezentrale Industrialisierung bis in die Täler der Voralpen hinein. Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1847 zwischen Baden und Zürich eröffnet. Die neuen Eliten, deren Macht und Ansehen nun weniger auf Familientraditionen beruhten als auf Kapital und geglückter unternehmerischer Initiative, sahen in den Kantonsgrenzen ein Hindernis für ihre ausgreifende Industriewirtschaft. Dem kam die neue Verfassung entgegen, indem sie versprach, Handelshemmnisse zu beseitigen und einen gesamtschweizerischen Binnenmarkt zu schaffen: Kantonale Zölle wurden aufgehoben, Masse und Gewichte vereinheitlicht, eine Landeswährung eingeführt und ein nationaler Postdienst gegründet. Zusätzlich hielt die Verfassung als Ziel die «gemeinsame Wohlfahrt» fest und garantierte gleiche Rechte sowie die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer Bürger. Dies alles diente dem privaten Handel und der Industrie, was den Historiker Martin (1926:265) zu folgender Aussage veranlasste: «Die Bundesverfassung ist nicht aus einer Idee, sondern aus einem Bedürfnis entstanden … Die wirtschaftliche Einheit ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Existenzbedingung für den Bund angesehen worden. Aus dieser Notwendigkeit ist die politische Einheit hervorgegangen, und diese hat zur Aufgabe gehabt, die wirtschaftliche Einheit zu schaffen.»5

      An den Verhandlungen des Wiener Kongresses 1815 waren die Grossmächte bei der Suche nach stabilen Verhältnissen im nachrevolutionären Europa nicht unglücklich über eine neutrale Zone zwischen Österreich, Sardinien-Piemont und Frankreich. Damit wurde die aussenpolitische Neutralität des schweizerischen Staatenbundes, welche sich die Alten Orte seit 1648 zu ihrer Vertragspflicht gemacht hatten, zum ersten Mal von den grossen europäischen Mächten anerkannt. Zwischen 1815 und 1848 spürten die Kantone dennoch, dass sie den guten oder weniger guten Absichten der angrenzenden Länder ausgesetzt waren. Zwar war die territoriale Unabhängigkeit der Kantone nie in Gefahr, doch mischten sich die Grossmächte auf diplomatischer Ebene in innere Angelegenheiten ein. Der Sonderbund und die diplomatischen Versuche seiner Mitglieder, die Nachbarstaaten für ihre Zwecke zu gewinnen, wiesen aber auch auf die innere Zerbrechlichkeit des Staatenbunds hin. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kündigten sich für die Schweiz bedeutungsvolle Veränderungen in der Nachbarschaft an: Im Prozess

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