Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
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3. Die Kultur gegenseitiger Hilfe und Zusammenarbeit in der Kleingesellschaft
Die Schweizer hatten die moderne Demokratie nicht erfunden; ihre Ideen kamen vielmehr von aussen durch die Französische Revolution. Erst das Verfassungsdiktat der Helvetik hatte Vorrechte der Geburt beendet, individuelle Freiheitsrechte deklamiert und die Gewaltentrennung eingeführt. Auch die erste Erfahrung mit einer nationalen «Volkssouveränität» auf der Grundlage individueller politischer Rechte entstammt der Revolutionszeit: 1802 fand anlässlich der Genehmigung der Zweiten Helvetischen Verfassung die erste schweizerische Volksabstimmung statt (Kölz 1992:140). Von aussen stammt auch das Konzept der Verbindung von Föderalismus und Demokratie: Dafür standen die USA Modell.6
Monarchische, nicht republikanische Staatsformen waren im Europa des frühen 19. Jahrhunderts die Regel. Bei allen Ideen und Anleihen von aussen musste sich deshalb der schweizerische Demokratisierungsprozess auch auf eigene gesellschaftliche Strukturen stützen können, um Erfolg zu haben. Verschiedenste kulturelle und soziale Traditionen dürften den Weg dahin geebnet haben. Die jahrhundertealte Unabhängigkeit war den kleinen Kantonen zwar teuer. Aber für den Aufbau einer grösseren Verwaltung fehlten die Mittel. Die Kleingesellschaften der Kantone befriedigten darum viele ihrer Bedürfnisse auf der Grundlage gegenseitiger Hilfe und Selbstverwaltung. In ländlichen Gebieten wie etwa des Wallis gab es die Einrichtung des «Gemeinwerks»: Jeder Einwohner war verpflichtet, einige Tage oder Wochen des Jahres für gemeinsame Einrichtungen der Gemeinde zu arbeiten (Niederer 1956). Auch die lokalen Berufszweige – wie etwa das Handwerk in den Städten – waren in Selbstorganisationen eingebunden, die z. B. die Entscheide über die Marktordnungen gemeinsam fällten. Gegenseitige Abhängigkeit zwang so zur lokalen Zusammenarbeit. Selbstbindung zur Zusammenarbeit ermöglichte aber auch die Realisierung gemeinsamer Vorteile in der Kleingesellschaft (Barber 1974). Deren lokale Versammlungen waren vielfach an Eigentum oder berufliche Stellung geknüpft. Dem setzte das französische Revolutionsrecht das politische Bürgerrecht jedes Einzelnen gegenüber und erzwang damit eine Neuschaffung der Kantons- und Gemeindebürgerrechte. Dies bedeutete einen erheblichen Einschnitt in die alte Tradition lokaler Selbstverwaltung. Es kann aber auch als Beginn einer neuen Tradition lokaler Demokratie gesehen werden: Die kommunalen Primärversammlungen bildeten in der Helvetik das «institutionelle Fundament des neuen Staates» und bestimmten jährlich die Wahlmänner der kantonalen Behörden (Kölz 1992:112 f.). Noch heute ist eine Schweiz ohne (Einwohner-)Gemeinden nur schwer vorstellbar.
4. Die kantonale Demokratisierung
Auf diesem kulturellen Boden und im Sog der französischen Julirevolution (1830) setzte in den Kantonen eine politische Demokratisierungsbewegung ein, für welche Historiker den Begriff der «Regeneration» (1831–1848) geprägt haben. Ihre Wortführer kamen aus der neuen bürgerlichen Elite: vor allem Juristen, Ärzte, Lehrer, Industrielle und Kaufleute in den Landstädten der Mittellandkantone. In einer Vielzahl von Flugblättern und Petitionen an die Behörden der Hauptorte fassten sie ihre liberal-demokratischen Forderungen zusammen: Rechtsgleichheit, persönliche Freiheitsrechte, Volksbildung, Gewaltentrennung, Volkssouveränität im Sinne von repräsentativer Demokratie sowie die Bildung eines Bundesstaates. Die Bewegung wuchs schnell über den Kreis der Eliten hinaus und war erfolgreich. Im kleinen Kanton Thurgau etwa, der weniger als 80 000 Einwohner zählte, wurden in den Gemeinden über hundert Petitionen mit 3000 Vorstössen für eine demokratische Verfassung zusammengetragen und diskutiert (Soland 1980:69 ff.). Auch anderswo verfehlten die Aufrufe ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht, wie die grossen Volkstage zwischen Oktober 1830 und Januar 1831 zeigten. Das Volk erzwang die Wahl von Verfassungsräten, die sofort mit den Verfassungsrevisionen begannen. Im Sommer 1831 verfügten bereits zehn sogenannte liberale Kantone über neue Verfassungen.
Selbstverständlich ging es in dieser staatspolitischen Revolution auch um handfeste, wirtschaftliche Interessen. Kölz (1992:227 ff.) nennt drei verschiedene Gruppen als treibende Kräfte der Regeneration. Mit der Erlangung von Bildung und Besitz strebte erstens ein neues Bürgertum nach mehr politischem Einfluss und Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Es verlangte die Aufhebung des Zunftzwangs, Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Verminderung von Zöllen und Gebühren. Die bäuerlichen, gewerblichen und ländlichen Schichten als zweite Kraft forderten vor allem die Beseitigung alter Zehnten und Grundlasten, die Aufhebung indirekter Steuern und Abgaben, die Einführung direkter Steuern (auf Einkommen und Vermögen), eine Reform des Hypothekarwesens, die Verkürzung des Militärdienstes, die Senkung des Salzpreises sowie die Verbesserung und Verstaatlichung des Armenwesens. Mit den letzten Forderungen waren auch soziale Fragen angeschnitten, von denen vor allem die industrielle Landbevölkerung betroffen war. Die liberalen Regimes sollten in der Folge allerdings wenig mit ihnen anfangen. Als dritte Gruppe nennt Kölz die aufgeklärten «Stadtliberalen» etwa Zürichs oder Berns, die nicht die Demokratisierung im Auge hatten, sondern vor allem staatspolitische Anliegen vertraten. Trotz der breiten Volksbewegungen bleibt es schwierig zu sagen, ob die liberale Bewegung eine soziale Revolution «von oben» oder «von unten» war. So meinen Masnata/Rubattel (1991:42 ff.) kritisch, dass die Demokratisierung die alten Machteliten nicht beseitigte, sondern dass sie, zusammen mit der Bundesverfassung von 1848, vor allem die politische Voraussetzung für eine ungehinderte Entfaltung des Industriekapitals geschaffen hätte.
Die erfolgreiche Demokratiebewegung in den Kantonen war aber in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Im Zeichen der Volkssouveränität realisierte sie – mit wenigen Einschränkungen – ein allgemeines Männerstimmrecht, wie es zu jener Zeit nur die USA kannten. Und während die amerikanischen Verfassungsväter die Risiken und Launen eines unberechenbaren «Demos» durch viele Regeln – etwa die Teilerneuerung des Senats und die «checks and balances» zwischen den staatlichen Gewalten – eindämmten, gingen die Kantone genau den umgekehrten Weg. Sie begnügten sich nicht mit der Rolle des Volks als Wahlkörper, sondern übertrugen ihm auch materielle Entscheidungsbefugnisse. In den Kantonen brachten das «Veto» und das Referendum die Anfänge der Abstimmungsdemokratie, die dem Volk eine direkte Nachkontrolle parlamentarischer Entscheidungen erlauben.
Die kantonale Demokratisierung begünstigte die Gründung des Nationalstaats. Denn zunächst waren die erfolgreichen liberal-demokratischen Kräfte zugleich Träger der Idee des Bundesstaats. Sodann erleichterte die Erfahrung kantonaler Demokratie die Übertragung des Demokratiekonzepts auf die nationale Ebene. Schliesslich war das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in gewissem Sinn ein Ersatz für die noch fehlende schweizerische Gesellschaft: Es gab kaum etwas Gleiches zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern oder zwischen Protestanten und Katholiken ausser dem demokratischen Recht auf politische Teilnahme, zuerst in den Kantonen und dann auch im neuen Staat. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht sowie die Volkssouveränität wurden dadurch zu den wohl wichtigsten symbolischen und realen Elementen, welche die abgekapselten Gesellschaften der Kantone miteinander verbanden und ihre politische Integration gestatteten.
5. Die Verbindung von Demokratie- und Föderalismusprinzip
Unsere letzte Behauptung, dass das Demokratieprinzip der nationalen Einigung förderlich war, stösst sofort auf einen zentralen Einwand: Wo bleibt der Einfluss der Minderheiten, wenn die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet? Die theoretische Antwort lautet: Auch die Beschlüsse einer Mehrheit sind nie endgültig. Die Minderheit darf versuchen, Entscheide neu zur Diskussion zu stellen. Zudem können sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder nach Wahlen ändern. Diese theoretische Antwort kann konfessionelle oder ethnische Gruppen als permanente Minderheiten freilich nicht befriedigen. Denn das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist nur möglich bei der Änderung von Präferenzen, die der Bürgerschaft als Ganzem offenstehen. Die Interessen struktureller