Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

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eigennütziges Verhalten von Produzentinnen und Konsumenten prägen den geldförmigen Austausch der Güter. Der freie Wettbewerb stimuliert Innovation, Differenzierung und Wachstum. Die industrielle und später die Dienstleistungswirtschaft werden zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung: Sie bringen neben dem materiellen Wohlstand auch neue Schichten, Klassen und Lebensmilieus hervor sowie die Emanzipation des Individuums aus traditionalen Bindungen. Aus dem Interessengegensatz von Kapital und Lohnarbeit ergibt sich indessen ein andauernder Grundkonflikt um wirtschaftlich-soziale Ungleichheiten. Die Nichtbewertung von freien, öffentlichen Gütern durch den Markt produziert Folgeprobleme wie den ökologischen Raubbau. Der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Nachhaltigkeit bleibt bis heute politisch ungelöst.

      – Sozialsystem: Mit der Industrialisierung verlor der Familienverband seine zentrale Funktion der Produktion und Verteilung in der Subsistenzwirtschaft. Weitere traditionelle Aufgaben wurden aus der Familie ausgelagert. Der laizistische Staat enthob die Sozialorganisationen der Kirche gesellschaftlicher Aufgaben des Bildungswesens oder der Regelung der Eherechtsverhältnisse. Der Familie und weiteren sozialen Vereinigungen verbleiben einzig jene Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen, für die sich die Logik der Erwerbs- und Geldwirtschaft nicht eignen. Die Beziehungen im Sozialsystem beruhen auf nicht geldwertem Austausch: Individuen handeln aufgrund von bestimmten Rollenerwartungen (z. B. der Geschlechter- und Lebenslaufrollen in der Familie) sowie aufgrund kultureller Konventionen oder Moralvorstellungen.

      – Staatliches System: Mit der Entwicklung des modernen Flächenstaats garantiert die politische Gewalt Unabhängigkeit gegen aussen und gesellschaftliche Sicherheit gegen innen. Das staatliche Gewaltmonopol sichert Eigentum und Freiheit der Bürger, organisiert den Wirtschaftsmarkt und zivilisiert Konflikte durch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung. Die Kontrolle des Gewaltmonopols erfolgt durch den Rechts- und Verfassungsstaat. Der Staat beschränkt sich auf die Bereitstellung öffentlicher Güter2 für das Wirtschafts- und Sozialsystem. Dazu gehören Vorleistungen für die private Produktion (Infrastruktur), die Kompensation von wirtschaftlicher Ungleichheit durch Umverteilung von Einkommen und die Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen sowie die Reparatur von Folgeschäden der industriellen Produktion und des Konsums (z. B. durch den Umweltschutz). Die Finanzierung staatlicher Leistungen erfolgt durch die Besteuerung der privaten Wirtschaftstätigkeit. Die Staatstätigkeiten werden durch die Verfassung und das Gesetz geregelt. In westlichen Industriegesellschaften legitimiert sich Demokratie als einzige dauerhafte, friedliche und stabile Regierungsform, weil sie ihren Bürgern unverzichtbare Freiheits- und Partizipationsrechte gewährt und die Ausübung der Regierungsmacht nach den Präferenzen der politischen Mehrheit verspricht.

      Diese Funktions- und Arbeitsteilung von Wirtschaft, Staat und Sozialsystem (das wir auch als Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnen können) folgt in der Schweiz einigen Besonderheiten. Bis in die jüngere Zeit beschränkten Kartelle und Absprachen zwischen den Unternehmen den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt stark. Das schweizerische Politiksystem gehört im europäischen Vergleich zu jenen liberal geprägten Staaten, die sich durch geringere Bürokratisierung, geringere Staatsausgaben und eine relativ bescheidene Sozialstaatlichkeit auszeichnen. Gegen aussen verband die Schweiz eine aussenpolitische Abstinenz (Maxime bewaffneter Neutralität) mit wirtschaftspolitischem Engagement für den globalen Freihandel. Die schweizerische Gesellschaft leistet sich mit ihren 26 Kantonen und 2300 Gemeinden auf bloss acht Millionen Einwohner eine fast luxuriös zu nennende politische Struktur. Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sind stark verflochten. Der weitreichende politische Einfluss von Wirtschaftsverbänden und Sozialorganisationen, die zahlreichen Milizämter und das dichte Netz gemeinnütziger Organisationen illustrieren dies.

      Staatsbildungen des 19. Jahrhunderts zeigten sich, wie etwa in Deutschland und Italien, als politische Bewegung «nationaler Einigung». Dementsprechend vereinigte der Nationalstaat ein Volk gleicher Ethnie, Kultur oder Sprache. Dies gilt für die Schweiz gerade nicht. Der Bundesstaat von 1848 brachte die Völker von 25 Kantonen und vier Sprachgruppen zusammen, die sich durch unterschiedliche Geschichte und Kultur auszeichneten. Die Zustimmung der Kantone zur Bundesverfassung war darum der politische Akt einer multikulturellen Staatsgründung, und deren Resultat keine Kulturnation, sondern eine politische Staatsnation.3

      Die politischen Institutionen hatten daher besondere Integrationsleistungen zu erbringen. Diese gingen über die Bewältigung jener wirtschaftlich-sozialen Konflikte hinaus, die in allen Staaten im Zuge der Industrialisierung anzutreffen waren. Denn die konfessionelle Spaltung nach der Reformation hatte zu vier Bürgerkriegen unter den alten Kantonen der Eidgenossenschaft geführt, und der Staatsgründung ging der Sonderbundskrieg zwischen konservativen Katholiken und fortschrittlichen Protestanten voraus. Die konfessionelle Spaltung setzte sich im «Kulturkampf» fort, und ihre Nachwehen reichen weit ins 20. Jahrhundert. Auch das sprachpolitische Verhältnis zwischen Deutschschweiz und Romandie war nicht immer ungetrübt. Trotz der politischen Neutralität kam es in der kritischen Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer gefährlichen Spaltung des Landes, als die politischen Eliten sich je auf eine Seite der Kriegführenden schlugen: Die Mehrheit der Deutschschweiz sympathisierte mit Deutschland, die Romands dagegen mit Frankreich.4

      Dass die Schweiz an solchen internen Konflikten nicht zerbrach, sondern trotz kultureller Heterogenität sogar noch zusammenwuchs, verdankt sie zu einem grossen Teil ihren politischen Institutionen. Nicht zufällig bezeichnete der Gesellschaftstheoretiker Karl Deutsch (1976) die Schweiz als «paradigmatischen Fall politischer Integration». Der Aufbau einer schweizerischen Nation gelang, obwohl es, überspitzt gesagt, eine schweizerische Gesellschaft 1848 noch gar nicht gab. Nationale Identität musste zum einen über Symbole gesucht werden, von der Figur der Helvetia, des Tells und seiner Armbrust auf den Briefmarken bis zu den Wirtshausschildern des «Weissen Kreuz» oder den «Drei Eidgenossen» und ihrer idealisierten Geschichte. Zum anderen waren das eidgenössische Stimm- und Wahlrecht, die Armee und das Recht auf Niederlassung in jedem Kanton auch etwas Reales und womöglich das erste Gemeinsame zwischen Appenzellern und Genfern. Das Dach des Föderalismus, das den Kantonen grosse Freiheiten liess, war eine politisch-institutionelle Voraussetzung dafür, dass die historischen Konflikte zwischen den Konfessionen in der Folge auskühlen konnten und dass die sprachlichen und kulturellen Minderheiten ihre Identität zu erhalten vermochten. Sprach- und Konfessionsminderheiten erhielten Sitz und Stimme im Bundesstaat. Dies trug dazu bei, dass durch politische Integration überhaupt eine schweizerische Gesellschaft entstehen konnte. Freilich gab es auch Ausgrenzungen. Der wirtschaftlich-soziale Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ungelöst. Gewerkschaften und die politische Linke hatten bis zu diesem Zeitpunkt wenig Einfluss auf die Bundespolitik und blieben während Jahrzehnten aus der rein bürgerlichen Landesregierung ausgesperrt. Auch für kulturell-sprachliche Konflikte gibt es Ausnahmen vom Muster politischer Integration. Nach dem Zweiten Weltkrieg brach ein Minderheitenkonflikt offen und heftig aus, als der französischsprachige, katholische Teil des Kantons Bern die Legitimität der bernischen Regierung in Frage stellte und in einem langen Kampf 1978 die Errichtung eines eigenen Kantons erreichte.

      Auch haben neben den politischen Institutionen andere Faktoren – etwa das Zusammenrücken in den Zeiten äusserer Bedrohung vor und während des Zweiten Weltkriegs – zur Abschwächung gesellschaftlicher Konflikte beigetragen. Trotzdem bleibt die erfolgreiche Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und die friedliche Lösung ihrer Konflikte bis heute eine der wichtigsten Leistungen des schweizerischen Systems. Aus politologischer Sicht spielen dabei zwei institutionelle Einrichtungen eine besondere Rolle, nämlich der Föderalismus sowie die proportionale Machtteilung oder Konkordanz.

      Die Eigenart schweizerischer Demokratie zeigt sich an mehreren Punkten. Erstens setzte sich das Prinzip demokratischer Legitimation politischer Herrschaft früher durch als in den anderen europäischen Ländern, wo im 19. Jahrhundert der Republikanismus der Französischen Revolution auf die konstitutionelle Monarchie zurückfiel. Später, in der ersten Hälfte des 20.

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