Systemische Organisationsanalyse. Günther Mohr
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Institutionen, die in der Lage sind, das Kräftespiel zu regeln, fehlen zur Zeit noch. Beck spricht davon, dass ein global desorganisierter Kapitalismus entsteht, für den es keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime – weder ökonomisch noch politisch – gibt. Die Verwobenheit der Kräfte bringt auch neue Tätigkeitsfelder für Organisationen. Zum Teil können die NGOs Probleme anpacken, die sich Nationalstaaten aus Rücksichtnahme nicht zu benennen trauen. Insgesamt erhöht die aktuelle Globalisierung die Komplexität des Umfeldes für alle Organisationen.
1.2 Die Tiefenstruktur eines Organisationssystems
Eine Organisation entsteht, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe von Personen sich entschließt, ein größeres Ziel zu erreichen, das ein Einzelner nicht schaffen kann. [EIN ORGANISATION ENTSTEHT] Dieser Prozess der Organisation lässt sofort zusätzlich ein System von Beziehungen entstehen. Der Begriff System bedeutet ein wechselseitiges Aufeinanderwirken der Menschen in einem Beziehungsnetz. Dies betrifft auch die unterschiedlichen Zielvorstellungen, Herkünfte und Interessen der Menschen. All diese Aspekte sind für die Beteiligten nur zu einem Teil wahrnehmbar. Die systemische Wirkung dieser Verschiedenheit und Vielschichtigkeit ist jedoch der Startpunkt einer Tiefenstruktur der Organisation. Unbewusst vereinbart man sich quasi, dass bestimmte Dinge offen verhandelt werden. Andere werden außen vor gelassen, wieder andere sind gar nicht im Blickfeld, so dass sie automatisch ausgeblendet werden. [EINE TIEFENSTRUKTUR AUS MUSTERN UND DYNAMIKEN] Diese Struktur der Organisation aus teils in der Aufmerksamkeit und teils nicht direkt im Fokus stehenden Elementen ergibt eine für jede Organisation charakteristische Mischung. Neben der offenen Oberflächenstruktur gibt es eine Tiefenstruktur, die auch aus Mustern und Dynamiken besteht, die das Denken und Fühlen und daraus resultierend das Handeln der Systemmitglieder bestimmen. Wer neu in eine Organisation kommt, hat oft noch einen verwunderten Blick für diese als »Selbstverständlichkeit« existierenden Muster. Wenn man ein Organisationssystem tatsächlich beeinflussen will, muss man an die Tiefenebene heran. [DIE TYPISCHE CHARAKTERISTIK] Die Tiefenstruktur und auch die Relation zwischen der offiziell in Verlautbarungen gepflegten Oberflächenstruktur und der Tiefenstruktur bestimmen jenseits aller Organisationsdiagramme, Firmenbroschüren und Leitlinien die eigentliche Dynamik eines Unternehmens- oder Organisationssystem. Wie bei einem Eisberg sind für ein Unternehmen sehr unterschiedliche Tiefenschichten relevant.
Das System als eigenständiger Beziehungspartner
Insbesondere für größere Unternehmen gilt, dass sogar das System ein eigenständiger Beziehungspartner jenseits der einzelnen Personen wird. Die im Unternehmen Arbeitenden bauen eine Beziehung zu der Gesamteinheit Unternehmen auf. Aus den unterschiedlichen Perspektiven jedes Beteiligten wird eine Ganzheit des unternehmerischen Systems wahrgenommen und »das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, wie Aris toteles vermerkte. Die Tiefenstruktur kann von unterschiedlichen Personen unterschiedlich bewertet werden. Ein Humansystem selbst entwickelt bestimmte Gewohnheiten und sogar eine bestimmte »geistige Kraft«. Diese trägt sich weiter, auch wenn einzelne Personen wechseln. Dieser Geist der Tiefenstruktur wird zwar geschaffen durch die beteiligten Kräfte, er ist aber auch unabhängig von ihnen. Auch beispielsweise ein Wechsel im Topmanagement hat hier kurzfristig nur begrenzten Einfluss. [DIE ESSENZ DES HUMANSYSTEMS] Manchmal scheint es sogar so, als wäre einem Unternehmen die geistige Kraft regelrecht abhanden gekommen. Wenn man in diese Firmen kommt, wirken alle bezüglich des Unternehmens hoffnungslos. Man macht zwar sein Tagwerk, aber ein »wofür« ist nicht mehr klar. Es ist keine geistige Kraft mehr für das Unternehmen da. Alle versuchen noch irgendwie durchzuhalten, aber das Leben und die Ausstrahlung ist verloren gegangen. Die geistige Kraft eines Unternehmens kann mehr oder weniger stark sein. Sie kann sogar zum Erlöschen gebracht werden. Dies ist manchmal sehr schnell spürbar, wenn Menschen über ihr Unternehmen sprechen.
Jeder Mensch, der an einem Organisationssystem in irgendeiner Weise beteiligt ist, gestaltet mit an der gemeinsamen Ausstrahlung dieses Systems. Er bringt sich selber als Person mit seiner Persönlichkeitsstruktur ein. Dabei hat natürlich nicht jeder den gleichen Einfluss. Macht ist ein sehr wirksames Systemphänomen in Organisationen (siehe dazu auch Kap. 2.3). Sie kann genutzt oder missbraucht werden. Der Geist eines Systems kann eine Zeitlang von einer führenden Person bestimmt werden. Diese bestimmt dann alles, aber nur, wenn die anderen sie gewähren lassen.
1.3 Organisationssysteme im Unterschied zu anderen Systemen
Ein Organisationssystem unterscheidet sich von anderen Systemen, etwa der Familie. [VERTRÄGE ALS CHARAKTERISTIKUM EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die Zugehörigkeit im Organisationssystem beruht auf Verträgen, nicht auf Verwandtschaft oder Elternschaft. Dennoch ist schon dieser Aspekt oft kaum zu spüren, da genau das Familienbild für die meisten Menschen die erste Erfahrung eines Systems ist und deshalb zur Übertragung reizt. Das »unternehmerische« am Organisationssystem legt den Fokus auf das größere Ziel, eine Dienstleistung zu kreieren, ein Produkt herzustellen oder eine andere Aufgabenstellung gemeinsam anzugehen. [DAS UNTERNEHMERISCHE EINES ORGANISATIONSSYSTEMS] Die sogenannten Nonprofit-Unternehmen werden heute ihrem Pendant, den Profitunternehmen, die offen Gewinnerzielung propagieren, zunehmend ähnlicher. Nonprofit-Unternehmen versuchen sich klarer an bestimmten Zielen zu orientieren und versuchen auch ihre Geld- und Ressourcenströme mehr an betriebswirtschaftlichen Prinzipien zu orientieren.
Abb. 1
Erwartungen an Organisationen
Von Organisationen handelt auch die Geschichte des indischen Weisheitslehrers Jiddu Krishnamurti. [ORGANISATIONEN UND DAS SEELENHEIL] Die theosophische Gesellschaft war Anfang des 20. Jahrhunderts eine große spirituelle Gemeinschaft, die das Gemeinsame der großen Religionen verbinden und dadurch den einzelnen Menschen zum Heil führen wollte. Krishnamurti wurde als junger Mann in Indien aufgrund seiner Ausstrahlung, die er schon als Kind und Jugendlicher besaß, von der theosophischen Gesellschaft entdeckt und dann an den besten Schulen Englands ausgebildet. Man versprach sich von ihm, dass er ein zweiter Messias werden könnte. Als er dann später in den 1920er Jahren zum Präsidenten der theosophischen Gesellschaft gewählt worden war, richtete man einen großen Kongress aus. Auf diesem Kongress stand Krishnamurti auf und sagte: Erstens bin ich kein Messias. Davon müsst ihr euch verabschieden. Zweitens löse ich kraft meines Amtes als Präsident der theosophischen Gesellschaft diese auf, denn eine Organisation kann nicht das Seelenheil des einzelnen erreichen. Dies kann er nur selbst tun.
In Krishnamurtis Organisation wurde seine Botschaft nur von der Hälfte der Mitglieder begeistert aufgenommen. Die andere Hälfte nahm ihm das sehr übel und setzte ihre Organisationsaktivitäten fort. Die Anhänger Krishnamurtis fanden eher zu besonderen Anlässen und in loser Form zueinander. Heute würde man von einem Netzwerk sprechen, auch eine Form von Organisation.
Wesentlich daran ist die Aussage, dass die Organisation dem Individuum nicht seine Verantwortung abnehmen kann. Dennoch können Organisationen sehr viel dafür tun, dass das Leben von Menschen reichhaltiger wird. Organisationen haben eine hohe Verantwortung für die Menschen. Sie auf das reine Jonglieren von Zahlen zu begrenzen, wie es bestimmte Wirtschaftstheorien – gut gemeint zur Komplexitätsreduktion – suggerieren, blendet wesentliche Auswirkungen von Organisationen aus. [DAS LEBEN REICHHALTIGER MACHEN] Schließlich verbringen Menschen in Organisationen eine Menge