Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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wünschenswert, eine Therapie zu entwickeln, die so wenig normativ wie möglich ist und statt dessen versucht, so viel wie möglich aus der Struktur der aktuellen Situation im Hier und Jetzt zu machen« (PHG 2006, Bd.1, 91 f.). Doch die PatientIn und die TherapeutIn sind Teil des größeren sozialen Felds. Lässt sich die Therapie davon trennen? Gibt es einen Mittelweg?

      In der Gestalttherapie wird die Psychopathologie als Störung an der Kontaktgrenze verstanden (Spagnuolo Lobb 2007d; Francesetti / Gecele 2009). Diese Störungen werden von PatientIn und TherapeutIn als ästhetische (gefühlte) Aspekte des In-Kontakt-Tretens unmittelbar erlebt (Bloom 2003). Unsere eigene phänomenologische Methode verlangt, dass wir extrinsische irrelevante Annahmen beiseitelegen (ausklammern), damit wir unser Augenmerk auf das richten können, was in der Sitzung entsteht (Bloom 2009; Crocker 2009; Philippson 2009; Yontef 2009).

      Natürlich werden das klinische Know-how und die klinische Weisheit und die klinischen Standards der PsychotherapeutIn nicht ausgeklammert. Sie bleiben verfügbarer Hintergrund, da sie Teil der grundlegenden Ethik der Psychotherapie sind. Wie könnte es die Therapie ohne sie geben? Auch das Wissen um die Außenwelt besteht weiterhin als Hintergrund. Eine Sitzung kann schließlich nicht hermetisch abgeschlossen sein. Der »Ausklammerer« ist »nicht ausklammerbar« (Stolorow / Jacobs 2006).

      Begünstigt das Ausklammern der extrinsischen Ethik des Inhalts eine unverantwortliche ethische Anarchie, die angeblich charakteristisch für das Paradigma des Individualismus ist (Wheeler 2000a)? KritikerInnen der Gestalttherapie, die innerhalb dieses Paradigmas praktizieren, werfen GestalttherapeutInnen vor, PatientInnen darin zu bestärken, sich jeglicher Autorität zu widersetzen und in ihrem Verhalten einer kühnen Autonomie zu frönen, ohne die Auswirkungen auf andere in Betracht zu ziehen (Yontef 2002). Es stimmt, dass Fritz Perls die Anti-Establishment-Gegenkultur anfeuerte (Perls F. 1992), aber es ist absurd zu behaupten, dass er für das extreme Ethos dieser Gegenkultur verantwortlich gewesen sei.

      Wir treten in die Phase der Quacksalber und Betrüger ein, die glauben, dass du geheilt bist, wenn du irgendeinen Durchbruch schaffst – und die jegliche Erfordernisse des Wachstums außer Acht lassen … Ich muss sagen, dass ich über das, was gegenwärtig vor sich geht, sehr besorgt bin. (Perls 2008, 10)

      Die ethischen Werte der Mach-dein-Ding-Autonomie wurden von manchen TherapeutInnen verfolgt, die sich unter dem Banner der kreativen Freiheit allzu sorglos ihren PatientInnen gegenüber verhielten. Manche GestalttherapeutInnen glaubten, dass dieses Verhalten durch Fritz Perls’ Gestalt Prayer, sein Gestaltgebet (Perls F. 1992), legitimiert würde. Diese Exzesse beschränkten sich natürlich nicht nur auf GestalttherapeutInnen. Innerhalb des frühen individualistischen Paradigmas wurde der Gestalttherapie oft vorgeworfen, PatientInnen zu beschämen. Konfrontativ arbeitende TherapeutInnen überredeten PatientInnen dazu, ihre »Widerstände zu durchbrechen« (Yontef 2002). Manche TherapeutInnen von damals haben den Ruf, sich außerhalb dessen verhalten zu haben, was heute für viele als ethische Leitlinien gilt. Die Gestalttherapie hat anscheinend unter diesem Paradigma einen schlechten Ruf bekommen. Aber muss die Gestalttherapie Buße für vermeintliche Verfehlungen in der Vergangenheit tun?

      Im Zusammenhang mit einem möglichen »Ethikkodex der Gestalttherapie« reflektieren Phil Joyce und Charlotte Sills, dass »die Gestalttherapie in den 1950ern entwickelt worden ist und sich für eine anarchistische Haltung einsetzte, die moralische Kodizes als überholte fixierte Gestalten betrachtete, die herausgefordert werden mussten. Die Ethik und der Verhaltenskodex wurden individuell festgelegt oder verhandelt«.

      Und weiter: »Es gab nur wenig Interesse am Potenzial für therapeutischen Schaden oder an Diskussionen von moralischen oder gemeinschaftlichen Werten. Wir glauben, dass dies zu vielen Beispielen missbrauchender therapeutischer Beziehungen geführt hat und auch weiterhin ein wichtiges Problem für einen gestalttherapeutischen Ethik- und Verhaltenskodex darstellt« (Joyce / Sills 2006 [Kursivierung D. Bloom]).

      Doch waren diese GestalttherapeutInnen nicht den »Gemeinschaftswerten und der Moralität« verpflichtet, die zu dieser Zeit und an diesem Ort herrschten? Kann man wirklich Fritz Perls’ lautere Absichten im klinischen Rahmen in Frage stellen, ungeachtet seiner Selbstdarstellung in nicht-klinischen Zusammenhängen? Die GestalttherapeutInnen der ersten Generation hatten ethische Leitlinien. Sie waren um das Wohlergehen ihrer PatientInnen bemüht. Das traf damals natürlich nicht immer auf alle von ihnen zu – und das tut es auch heute nicht. Es gab, gibt und wird in allen Berufen immer ethische Probleme geben. Alle Berufe brauchen ethische Kodizes, so wie alle Gesellschaften Gesetze brauchen. Und sicher sind GestalttherapeutInnen nicht die einzigen »Missetäter« in dieser Berufsgruppe, die sich Verstöße gegen die ethischen Leitlinien haben zuschulden kommen lassen.

      Außerdem ist es ein Kernaspekt der klinischen Theorie/Praxis der Gestalttherapie, fixierte moralische Kodizes infrage zu stellen, wenn unbewusste Introjekte bewusst werden und Gestalt annehmen. Manche moralischen Kodizes sind tatsächlich überholt und tauchen in Sitzungen als Einschränkungen des In-Kontakt-Tretens an der Kontaktgrenze auf. Dies ist allen GestalttherapeutInnen bekannt. Die Normen der zeitgenössischen Praxis fordern uns nicht länger auf, unsere PatientInnen zu provozieren, sondern konkret mit ihnen an der Kontaktgrenze zu sein und sensibel dem gegenüber zu sein, was auftaucht.

      Robert Lee hat einen wichtigen Beitrag zur gestalttherapeutischen Ethik geleistet. In seinem Essay Ethics: A Gestalt of Values / The Values of Gestalt. A Next Step (Lee 2004a), schreibt er über unsere »impliziten Beziehungsbestrebungen«. Diese Bestrebungen und viel von seiner dialogischen intersubjektiven Theorie (ebd., 26) scheinen der hier beschriebenen situativen Ethik ähnlich zu sein. Die situative Ethik jedoch bezieht sich auf die grundlegendere Architektur der vorgegebenen Lebenswelt, aus der implizite Beziehungsbestrebungen erst entstehen können. Er beschreibt eine Beziehungsethik, bei der ethische Implikationen und Entscheidungen aus einem »mitfühlenden Grund« entstehen, der Verbindungen und Beziehungen wertschätzt. Die situative Ethik jedoch ist unsere ethische Perspektive, aus der wir den Wert von Verbindungen und Beziehungen sehen und erfahren können. Die situative Ethik kann die Grundlage für Mitgefühl bilden. Lees Beziehungsethik wird zu einer Ethik des Inhalts, wenn er sie über die für die Gestalttherapie typische Psychotherapie der Kontaktgrenze hinaus in die Sozialkritik des »breiteren größeren Feldes« trägt.

      »Individuelle Gesundheit ist abhängig von der Gesundheit des größeren Felds.« (ebd., 27) Demnach »legt die Gestalttherapie nicht nur großen Wert auf die Unterstützung des Individuums, sondern auch auf die des Umwelt-Feldes« (ebd., 25). Er fährt fort: »Wir müssen ganze Lösungen finden, die sowohl das Individuum als auch die Umwelt unterstützen.« (ebd., 26) Als Anleitung für sozial-politische Reformer ist eine solche Forderung legitim. Doch wie weit ist das Feld unserer unmittelbaren klinischen Sorge für diese leidende PatientIn in diesem Moment in diesem Praxisraum?

      Die Aufmerksamkeit für das soziale Feld eines Menschen ist einer der Einflüsse auf unsere Arbeit, da das Selbst seinen größeren Hintergrund umfasst – das soziale Feld, das phänomenale Feld oder das Organismus/Umwelt-Feld. Wird diese Aufmerksamkeit jedoch auf einen vagen Wert der »Feld-Verantwortung« oder auf eine persönliche Meinung über die »Gesundheit« des größeren Feldes ausgeweitet, geraten wir in eine unsichere Ethik des Inhalts, was Implikationen für unsere erfahrungsbezogene Methode hat. Meinungen über das Umwelt-Feld stellen eine ehrenwerte Ethik des Inhalts für soziale oder politische Reformen dar. Ihre spezifische klinische Relevanz für die grundlegende Ethik, die die Psychotherapie trägt, ist allerdings fraglich. Verschiedene politische Parteien haben unterschiedliche politische Agenden und jede hat ihre eigene Ethik des Inhalts. Es ist arrogant davon auszugehen, dass eine bestimmte Untergruppe wohlmeinender PsychotherapeutInnen die einzige Wahrheit besitzt.

      Gemeinschaftswerte, sittliches Empfinden, Meinungen über das »Feld«, die Umwelt, Beziehungsverantwortung, sogar die Spiritualität verändern sich im Laufe der Zeit. Doch die Struktur der aktuellen Situation und unsere Arbeit an der Kontaktgrenze bleiben konstant. Sie sind der Leitstern unserer Praxis, während die Natur des Leidens unserer PatientInnen

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