Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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Die Situation und die Gestalttherapie

      Heutzutage bringen GestalttherapeutInnen »die Situation« in die Gestalttherapie, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Staemmler 2006a; Robine 2011; Staemmler 2011; Wollants 2012). Die Zeit für diese Idee ist gekommen. Meiner Ansicht nach betont die Situation die konkrete existenzielle Dimension der Gestalttherapie.

      Wie Jean-Marie Robine ausführt, taucht der Begriff der »Situation« in Perls / Hefferlines und Goodmans Klassiker zur Gestalttherapie viel öfter auf als der Begriff »Feld«. Die Kontaktgrenze kommt im phänomenalen Ganzen der »Situation« vor, so wie der Grund oder Figur/Grund und das Auftauchen des Selbst (Robine 2011). Die Situation ist »eine Portion in der Zeit« als Erfahrungsganzes (vgl. Staemmler 2011), und die Kontaktsequenz im Mittelpunkt unserer Methode ist ein zeitlicher Prozess. Die »Situation« verortet das In-Kontakt-Treten ausdrücklich als zeitlichen Prozess innerhalb des breiter gefassten Begriffs des Feldes.

      Vom phänomenologischen und existenziellen Standpunkt aus betrachtet ist die Situation dort,

      […] wo sich die menschliche Existenz primär findet. […] Wem oder was auch immer begegnet wird, wird in einer Situation begegnet. Was auch immer getan wird, es wird aus einer Situation heraus und in Anbetracht weiterer Situationen getan. Die menschliche Existenz ist ihre eigene Situation. (Rombach 1987, 138).

      Die Situation hat also die Qualität menschlicher Existenzialität; sie ist Kennzeichen der menschlichen Existenz. Die Situation ist ein erfahrungsbezogener und existenzieller Teil des Feldes. Die situative Ethik ist demnach die Ethik der gestalttherapeutischen Situation – ein erfahrungsbezogenes und existenzielles Phänomen. Diese Situation entsteht aus dem Kontakt und ist gleichzeitig Grundlage für das In-Kontakt-Treten. Sie ist Teil der vorgegebenen Struktur der Lebenswelt, die immer für uns da ist – eine Struktur die für uns präsent ist, verfügbar, wenn wir Gestalttherapie praktizieren. »Ich werde von der Situation gemacht und nehme auch an der Erschaffung der Situation teil. Schon vor jeglichem Entstehen einer Gestalt«, schreibt Robine, »bildet sich bereits eine Situation, die der Grund für die kommenden Gestalten sein wird« (Robine 2011, 110). Für Robine ist es das »Es der Situation« (ebd., 103). Für mich ist es auch die Situation als Lebenswelt.

      1.2 Situative Ethik und Ethik des Inhalts

      Die situative Ethik ist keine »Ethik des Inhalts«. Die Ethik des Inhalts umfasst moralische, persönliche oder gesellschaftliche Werte, die uns erlauben, dieses oder jenes, »richtig« oder »falsch« zu wählen. Die situative Ethik ist vielmehr unsere unvermeidliche ethische Ausrichtung auf eine Ethik des Inhalts. Sie ist ein Aspekt der vorgegebenen Struktur der Lebenswelt, die erst ermöglicht, dass wir uns einer Ethik des Inhalts bewusst werden. Wir sind ethische Wesen, die sich mit einer Ethik des Inhalts auseinandersetzen, weil die ethische Sensibilität in der Struktur unserer Situation als situative Ethik eingebettet ist.

      2. Intrinsische, extrinsische und grundlegende Ethik

      Jede medizinische, psychotherapeutische oder pädagogische Theorie basiert auf einer Konzeption der Selbstregulation und der entsprechenden Wertehierarchie. Die Konzeption ist die Realisierung dessen, was der Wissenschaftler tatsächlich als den Hauptfaktor im Leben und in der Gesellschaft betrachtet. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 88)

      Ein klinisches Beispiel.

      Eine Sitzung beginnt.

      Die Tür der psychotherapeutischen Praxis öffnet sich.

      Ein Mensch tritt ein. Die TherapeutIn und der/die Eintretende geben sich die Hand und beide setzen sich.

      »Was bringt Sie zu mir?« fragt die TherapeutIn.

      Der Mensch sagt: »Ich bin depressiv, traurig, besorgt …«

      Dann weint er/sie.

      Die PsychotherapeutIn wird sich als Nächstes nach den persönlichen Umständen erkundigen – ohne solche Informationen lässt sich keine Psychotherapie fortsetzen. Was, wenn es im Leben dieses Menschen einen Notfall gibt? Was dann? Worauf wird sich die »Arbeit« konzentrieren – auf das soziale Feld, das Leben zu Hause, Beziehung(en), die Familie, Drogenmissbrauch und so weiter? Auf das »umweltbezogene Feld«? Auf das »beziehungsorientierte Feld«? Auf das »spirituelle Feld«? Auf globale oder politische Fragen? Oder auf die Kontaktgrenze dieser PsychotherapeutIn und dieses Menschen, an der das Leiden dieses Menschen direkt erlebt werden kann? Wie können PsychotherapeutInnen phänomenologisch praktizieren, wenn persönliche Ansichten oder Angelegenheiten in der »Außenwelt« Gestalt annehmen?

      Alle PsychotherapeutInnen haben ihre eigenen Überzeugungen: persönliche, klinische, ethische, kulturelle und so weiter. TherapeutInnen können ihre Persönlichkeit nicht an der Praxistür zurücklassen. Es ist weder ratsam noch möglich. Was tun wir also mit persönlichen Überzeugungen? Strenggläubige römisch-katholische PsychotherapeutInnen hören ihren Patientinnen dabei zu, wenn sie eine Abtreibung planen. Sozial-konservative PsychotherapeutInnen hören, wie Paare die Möglichkeit mehrerer Sexualpartner diskutieren. Manchmal passen die persönlichen Überzeugungen von TherapeutIn und PatientIn zusammen – und manchmal ganz und gar nicht. Unsere persönlichen Überzeugungen leiten unser persönliches Leben. Dabei handelt es sich um eine Ethik des Inhalts.

      Natürlich sind manche der persönlichen Überzeugungen einer TherapeutIn notwendig, um Psychotherapie zu praktizieren. Dazu gehört das Wissen der TherapeutIn, das sie in der klinischen Ausbildung erworben hat, sowie persönliche klinische Erfahrung. TherapeutInnen bleiben Menschen in ihrer klinischen Rolle und praktizieren in ihrem persönlichen Stil, der durch die Erfahrungen in ihrem Leben geformt wird (L. Perls 1992). Wie können PsychotherapeutInnen unter diesen Umständen mit potenziellen Konflikten zwischen persönlichen und klinischen Überzeugungen umgehen, wenn die Frage »Was bringt Sie zu mir?« gestellt und beantwortet wird?

      Die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Ethik und der grundlegenden Ethik der Psychotherapie kann bei der Antwort auf diese Frage helfen. Wenn die PsychotherapeutIn zulässt, dass ihre persönlichen ethischen Überzeugungen in einer Sitzung Gestalt annehmen, dringt eine extrinsische Ethik in die Psychotherapie ein. Perls, Hefferline und Goodman (2006) stellen fest, dass es zur Gestalttherapie gehört,

      […] die interne Struktur der gegenwärtigen Erfahrung zu analysieren … das Erreichen einer starken Gestalt selbst [ist] die Heilung …, denn die Kontaktfigur ist nicht ein Anzeichen dafür, sondern selbst die kreative Integration der Erfahrung. (ebd. Bd. 1, 28, Hervorhebungen im Original)

      Und diese Gestalt, die an der Kontaktgrenze entsteht, muss daher frei von irrelevanten persönlichen Anliegen der PsychotherapeutIn sein. Es ist die PatientIn, die die Patientin ist. Oder genauer gesagt: Die Kontaktgrenze von TherapeutIn und PatientIn ist der Ort in der Psychotherapie, an dem die Erfahrungen der PatientIn Figur wird, vor der aktiven Hintergrundpräsenz der TherapeutIn, die von situativer Ethik geleitet wird.

      Ein hypothetisches klinisches Beispiel.

      Eine Frau lässt sich in den Sessel fallen und blickt zu Boden.

      »Ich hatte eine Fehlgeburt.« Sie ist atemlos, aufgewühlt.

      Die Therapeutin beugt sich vor und sieht sie an.

      »Mary, können Sie mich ansehen? Ich hatte vor ein paar Jahren auch eine. Sie fühlen sich heute sicher schlecht. Das geht vorbei. All das heißt nur, dass Sie sobald wie möglich wieder versuchen müssen, schwanger zu werden.«

      Die persönlichen

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