Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов страница 42

Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

Скачать книгу

wissen, dass sie komplexer ist, als sie erscheint. Wie können wir beschreiben, was in diesen Momenten geschieht? Es liegt in der Natur des In-Kontakt-Tretens, dass es sich nicht verbalisieren lässt. Beachten Sie das behutsame Vor und Zurück von Klient und Therapeut und die Offenheit und Verfügbarkeit des Therapeuten als eine gleichzeitig entstehende Präsenz. Der Klient befindet sich dabei an der Kontaktgrenze. Das Eingehen des zugegebenermaßen überschaubaren Risikos, das Therapeut und Klient hier wagen, wird möglich durch den sicheren Rahmen, den der Therapeut schafft, und der Teil der gemeinsamen Grundlage der Sitzung ist.

      Der Therapeut bringt seine klinische Erfahrung, seine Fertigkeiten, sein Fachwissen, sein Verständnis der Standards der beruflichen Praxis und assimilierter ethischer Kodizes in die Situation ein. Diese Faktoren bilden das Gerüst, das die Arbeit im Hintergrund stützt, ohne dass sich Therapeut und Klient dessen bewusst sind. Wenn nötig, wird der Therapeut bewusst und gezielt auf dieses Gerüst zurückgreifen, das für mich die grundlegende und die intrinsische Ethik der Psychotherapie darstellt.

      Doch da ist noch etwas. Der anmutige Rhythmus des gemeinsamen Erlebens von KlientIn und TherapeutIn an der Kontaktgrenze wird durch etwas Grundlegenderes geformt, nämlich durch die menschliche Eigenschaft, einander »ethisch« zu sehen – also als Menschen, die andere als Menschen erkennen und einander mit einer gewissen Erwartung, mit einer gewissen ethischen Sensibilität begegnen. Das kann man nicht lernen. Es liegt der menschlichen Struktur zugrunde. Ich werde dieses »noch etwas« fortan als situative Ethik bezeichnen, als die Ethik der menschlichen Situation, ein strukturelles Element der subjektiv wahrgenommenen Lebenswelt, in der wir alle Menschen sein können.

      Dieses Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Im ersten Teil definiere ich die situative Ethik im Rahmen der Gestalttherapie, im zweiten Teil beschreibe ich die Gefahr der Verwechslung von extrinsischer und intrinsischer Ethik in der Gestalttherapie sowie die praktischen Auswirkungen dieser Verwechslung auf die phänomenologische Methode unserer psychotherapeutischen Praxis. Ich werde ausführen, wie schwierig es gerade für GestalttherapeutInnen sein kann, diese ethischen Kategorien auseinanderzuhalten. Dabei werde ich Probleme ansprechen, die diese Verwechslung in unserer klinischen Praxis verursacht. Und ich werde versuchen, klinisch tätigen TherapeutInnen Hilfestellung bei den schwierigen ethischen Konflikten zu geben, die unsere Arbeit aufwirft.

      Kurz gesagt: Dies ist ein in der Phänomenologie verwurzelter praktischer Leitfaden für eine Ethik der Gestalttherapie (vgl. Boeckh 2012; Gremmler-Fuhr 1999; Hutterer-Krisch 1996, 2001, 2007; Krisch 1992a; Robine 1988; Stoffl-Höll 1992).

      1. Situative Ethik

      Wie sollen wir uns zueinander verhalten? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten, allerdings keine Antworten, die für jeden Zeitpunkt und jeden Ort gleichermaßen gelten. Für die Zwecke dieses Kapitels sind die Antworten, so bedeutend sie auch sein mögen, weniger wichtig als die Tatsache, dass es uns immer wieder treibt, diese Fragen zu stellen. Dass wir uns solche Fragen immer wieder stellen, ist das Wasserzeichen, mit dem die situative Ethik uns Menschen versieht. Der Ethik gegenüber offen zu sein, liegt im Kern unseres Menschseins und ist daher untrennbar mit der psychotherapeutischen Praxis verbunden. Diese Fragen zu stellen und zu beantworten hat den gestalttherapeutischen Blick auf die Welt besonders geschärft.

      GestalttherapeutInnen haben immer hervorgehoben, wie wichtig es für uns ist, als Gestalter in der Gemeinschaft, als Sozialkritiker und politische Aktivisten tätig zu sein, die die Gesellschaft in Übereinstimmung mit unserer Auffassung der menschlichen Natur und der Gesellschaft reformieren (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Neben diesem reformistischen Anspruch steht die Aufforderung, als PsychotherapeutInnen nach den der Gestalttherapie eigenen humanistischen, egalitären und nicht-autoritären klinischen Werten zu arbeiten. Die GestalttherapeutInnen von heute sprechen das Thema der gestalttherapeutischen Ethik explizit an (Joyce / Sills 2006; Wheeler 1992; Lee 2004b). Sie richten – endlich – ihr Augenmerk auf die Ethik der Psychotherapie. Sie rufen zu einem Wandel auf, von einer modernistischen »Ethik des Individualismus« zu einer »beziehungsbezogenen« »Feld-«, »Gemeinschafts-« oder »umweltbezogenen« Ethik (Wheeler 2000a; Lee 2004b; Staemmler 2009) und zu einer intersubjektiven »Ethik der Achtsamkeit« (Jacobs 2011). Sie mahnen eine Konzentration auf die therapeutische Beziehung an. Sie fordern uns auf, dem Einfluss der GestalttherapeutIn auf die PatientIn besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da TherapeutIn und PatientIn gemeinsam an der Therapie teilnehmen (Hycner / Jacobs 1995).

      Dies ist jedoch nicht die Ethik, mit der ich mich hier vorrangig befassen will. Mir geht es um jene Ethik, die den Therapieprozess selbst aufrecht hält, ja, eine Voraussetzung für ihn ist – und die auch unserer menschlichen Existenz im »Mitsein« implizit ist (Heidegger 1953). Diese Ethik ist die Ethik unseres gemeinsamen phänomenalen Hintergrundes, der Lebenswelt. Sie orientiert unser Bewusstsein dahingehend, dass in der therapeutischen Beziehung zu jeder Zeit ethische Fragen auftauchen – zum Beispiel, wie wir unsere Honorare handhaben und wie wir uns unseren KollegInnen und SupervisorInnen gegenüber verhalten. Sie steht auch hinter unseren ethischen Kodizes und unserem Standard in der therapeutischen Praxis – und in Momenten beruflicher Isolation verankert sie unseren Glauben, dass wir in unserer Arbeit nie alleine sind. Dies ist keine Ethik, die uns sagt, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist, sondern eine Ethik, die uns dafür öffnet, dass es da ein Richtig, ein Falsch oder eine Kontroverse darüber geben könnte, ob es richtig und falsch überhaupt gibt. Dies ist »situative Ethik« – eine Ethik einer anderen Ordnung.

      Mein Gebrauch des Begriffs »Ethik« als »situative Ethik« wird von der europäischen Philosophie beeinflusst. Nicht nur in Emmanuel Lévinas’ komplexer Philosophie bezeichnet »Ethik« oder »das Ethische« unsere grundlegende praktische konkrete Beziehung zueinander (Critchley 2002). Die Ethik ist ein Weg, »mit dem/der Anderen als Akt oder Praxis in Beziehung zu sein«, den Lévinas als »ethisch« beschreibt (Lévinas 1969, 12). Das »Ethische« ist eine »untrennbare interpersonelle« Struktur, auf der alle anderen Strukturen beruhen. Lévinas Ethik bietet keine der Regeln herkömmlicher Ethik; sie ist die »Voraussetzung meiner Existenz« und »definiert genau den Bereich, den ich bewohne« (Davis 1996 [Übers. a. J.]).

      »Die Ethik ist eine Optik« (Lévinas 2002). So wie uns die Struktur unserer Augen befähigt, Farben zu sehen und zu wählen, so sensibilisiert uns die situative Ethik und öffnet uns für die ethische Situation, in deren Rahmen wir einer Ethik des Inhalts und der Wahl fähig sind.

      Die situative Ethik kann in das gestalttherapeutische Paradigma des Organismus/ Umwelt-Feldes transferiert werden, das durch verschiedene Interpretationen der »Situation« ergänzt wird, wie ich später ausführen werde. Ich bezeichne auch diese Ethik als situativ, um zu betonen, dass sie ein verkörperter und sozialer Aspekt des Organismus/Umwelt-Feldes ist. Das In-Kontakt-Treten und die Kontaktgrenze, der Kern der Gestalttherapie, sind in einer ethisch organisierten Welt verortet. Die klinische Implikation von situativer Ethik als Plattform für die Praxis der Gestalttherapie zieht sich durch dieses Kapitel.

      Meine Abhandlung umfasst auch eine phänomenologische Dimension. Ich behandle die situative Ethik als eine Struktur der Lebenswelt und nicht so sehr als eine Ethik des Organismus/Umwelt-Feldes, um die erfahrungsbezogenen oder phänomenologischen Merkmale dieser Ethik hervorzuheben. Die Bedeutung, die dem Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie zugeschrieben wird, hat sich im Laufe der Geschichte der Philosophie verändert. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich bei der Lebenswelt um eine Erfahrungswelt handelt. Folgender Aspekt der Lebenswelt ist aus den späteren Schriften von Edmund Husserl (1954, 145) entnommen: »Die Lebenswelt ist […] immer schon da, im Voraus für uns seiend, ist ›Boden‹ für alle […]. Die Welt ist uns […] vorgegeben«. Die Lebenswelt geht der Erfahrung voran. Ergänzend sei Martin Heideggers ähnliches Konzept der »Welt« (Heidegger 1962) angeführt, wonach die historische, kulturelle und soziale Welt, in die wir »hineingeworfen« werden, die Architektur ist, die dann das Fundament unserer Erfahrungswelt bildet. Ich würde sagen, dass unsere grundlegende ethische Perspektive zur Architektur der Lebenswelt gehört. Die situative

Скачать книгу