Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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anderen Worten: Die Melodie, die das Kind zu spielen lernt, ist wiederum Teil einer größeren Musik, Teil jener Melodie, die in dem phänomenologischen Feld geschaffen wird. Wie Frank schreibt (2001, 21): »[…] Kleinkinder [entwickeln] eine entwicklungs- und beziehungsorientierte Körpersprache. Beide Partner beeinflussen und formen das Erleben des/der Anderen.« Und weiter: »[…] Bewegungsmuster […] gehören weder zum Kind, noch zur Umwelt, sondern zum Beziehungsfeld«5 (ebd., 19 [Übers.: A. J. & R. K.]). Es ist keine Frage der Selbstregulation des Organismus (der traditionellen humanistischen Anthropologie zufolge, die eine individualistische Perspektive beibehält), sondern der Selbstregulation eines situationsbezogenen Kontaktfeldes. Das Kind und seine Eltern schaffen gemeinsam ihre Begegnung in einem Grenzgebiet, das die Gestalttherapie aus einer erlebnis- und verfahrensorientierten und phänomenologischen Perspektive ganz richtig als »Kontaktgrenze« bezeichnet. Aus diesem Grund findet Entwicklung – auch die körperliche Entwicklung – in einem phänomenologischen oder situationsbezogenen Feld statt. Die sich daraus ergebenden Lernzuwächse sind wie erlebnisorientierte Codes, die jeder Mensch in seine Art des Being-with im Hier-und-Jetzt einbringt.

      Im Vergleich zur phasischen Perspektive liegt der Vorteil der entwicklungsbezogenen Sichtweise der Bereiche darin, dass sie die Komplexität der Situationen erfasst und dabei das momentane Gewirr von Faktoren in Betracht zieht. Diese Faktoren beeinflussen sich zwar gegenseitig, zeigen aber alle einen eigenen Entwicklungsverlauf. Auf diese Weise wird die Situation in ihrer ganzen Komplexität gewürdigt, statt sie auf das Muster einer Phase zu reduzieren. Wir können die Komplexität der individuellen Entwicklung besser berücksichtigen, wenn wir den gegenwärtigen Moment als transversale Ebene der Entwicklung unterschiedlicher Bereiche (s. Abb. 2) betrachten, die sich zu immer wieder neuen Verbindungen miteinander verweben und die Gestalt des Kontaktes im Hier-und-Jetzt entstehen lassen.

      3.1 Der Bereich der Konfluenz. Die Fähigkeit des Being-with ohne die Wahrnehmung von Grenzen

      Zum Zeitpunkt der Geburt6 entsteht Kontakt auf konfluente Art und Weise: Mutter und Kind erkennen einander intuitiv. Das Kind nimmt die Umwelt als Teil seiner selbst wahr (Stern 1990) und die Mutter ist sich ihrer Liebe zu ihrem Kind voll bewusst. Weil Konfluenz eine Kontaktmodalität ist, stellt sie die Fähigkeit dar, die Umwelt so wahrzunehmen, als gäbe es keine Grenzen, keine Abgrenzung zwischen der Umwelt und dem Organismus. Diese Fähigkeit bildet die Grundlage für Empathie und ist eine natürliche Qualität, die man in den Neurowissenschaften heute als verkörperte Empathie (»embodied empathy«) bezeichnet (siehe Gallese et al. 2006). Die Fähigkeit zur Konfluenz entspringt unserer fundamentalen Zugehörigkeit zur Umwelt (Philippson 2001). Stern et al. (2000) beschreiben die Kompetenz des Kindes, die Intentionen der Erwachsenen intuitiv zu erkennen und sie zum Abschluss zu bringen. Seine Beobachtungen, die er im Kontext seiner Kritik an Mahlers Theorie des primären Autismus (1968) formuliert, verdeutlichen die kindliche Fähigkeit (tatsächlich das genaue Gegenteil von Autismus), den/die signifikante(n) Andere(n) intersubjektiv zu erspüren. Parallel dazu und unbeabsichtigt bestätigen sie darüber hinaus den ästhetischen Standpunkt der Gestalttherapie: Die natürliche, volle Anwesenheit des Kindes mit all seinen Sinnen an der Kontaktgrenze sichert ihm die intuitive Erfassung durch den/die Andere(n), selbst wenn es an der Grenze einen Mangel der Wahrnehmung der Abgrenzung gibt.

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      Abb. 2: Gestalttherapeutische Karte der polyphonen Entwicklung der Bereiche

      Das gestalttherapeutische Konzept der Konfluenz liefert eine schlüssige Erklärung der Intuition zwischen Mutter und Kind (die sich möglicherweise bis ins Erwachsenenalter fortsetzt): Es handelt sich dabei um eine Sensibilität gegenüber den Vorgängen in der Umwelt oder um eine Sensibilität gegenüber »natürlichen Anhaltspunkten«, um einen phänomenologischen Begriff zu verwenden (siehe Blankenburg 1998). Dieser Bereich bleibt und kann im Lauf des Lebens (weiter-)entwickelt werden.

      Das Risiko, das mit einer Desensibilisierung dieses Bereichs einhergeht, ist Wahnsinn: Wahrnehmung ohne Klarheit. Und ich würde sogar sagen: ohne Atem (aufgrund von Angst).

      3.2 Der Bereich der Introjektion. Die Fähigkeit des Being-with, während die Umwelt ins Innere aufgenommen wird

      Das Kind ist Umweltreizen gegenüber sensibel, da sie ihm die Lernmöglichkeiten bieten: Es wiederholt zunächst Laute, dann Wörter, eignet sich die Syntax sowohl der Sprache als auch der primären Beziehungen an, wirft Gegenstände zu Boden, ahmt die Gesten der Erwachsenen nach usw.). Diese Erfahrungen gehören zum Bereich der Introjektion, einer Kontaktmodalität, die sich durch die Integration von Umweltreizen auszeichnet. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Sprache und das gesamte kulturelle Gefüge, in dem das Kind aufwächst (die Gepflogenheiten und Regeln einer Gesellschaft), und die familiären Beziehungsmuster (was bringt die Mutter zum Lächeln, wenn sie müde ist, wie bringt das Kind den Vater dazu, ihm zu erlauben, spielen zu gehen, und was macht ihn wütend usw.). Die Energie des Kindes konzentriert sich darauf, Dingen und Beziehungsmustern Namen zu geben. Das verleiht ihm ein Gefühl der Macht: »Happa-Happa« zu sagen, wenn es hungrig ist, bedeutet, dass das Kind nicht schreien muss, um sich mit seinem Umfeld zu verständigen. Ebenso lässt ein gewinnendes Lächeln den Ärger des Vaters verfliegen, sodass das Kind den »Kampf« mit ihm gewinnt. Sein ganzes Selbst ist darauf ausgerichtet, von der Welt zu lernen, indem es sie in sich aufnimmt. Das Kind zieht Energie und ein Gefühl für das Selbst daraus, dass die Welt es formt. Seine Kreativität drückt sich in der Neugier aus wenn es wissen will, »wie die Welt schmeckt, wenn ich sie esse.« Im Rahmen der Entwicklung dieses Bereiches gibt das Kind auch sich selbst und den eigenen Handlungen einen Namen (»Lukas ist hungrig«, »Lukas ist ein lieber Junge« usw.). Diese Kontaktmodalität wird im Laufe des Lebens immer weiterentwickelt und bildet die Grundlage für die Fähigkeit zu lernen.

      Das Risiko in diesem Bereich geht allgemein von der Desensibilisierung aus, die die Kontaktgrenze betäubt, sodass die Welt in den Organismus eindringt, ohne im Austausch dafür Energie zu bekommen. Die Folge ist eine Depression des Organismus, da er nicht in der Lage ist, das zu benennen, was ihm seinem Gefühl nach nicht gehört.

      3.3 Der Bereich der Projektion. Die Fähigkeit des Being-with, indem man sich auf die Welt einlässt

      Ein weiterer Bereich betrifft die Kontaktmodalität der Projektion, durch die das Kind fähig ist, sich auf die Welt einzulassen und seine Energie dem/der Anderen und der Umwelt anzuvertrauen. Das Kind ist allem gegenüber neugierig und nutzt seine Energie, um die Welt kennen zu lernen: Es öffnet Schubladen und alles, was geschlossen ist, projiziert das Selbst dorthin, wo es nicht ist und wo es sein könnte. Die Fähigkeit, in die Welt und die Umwelt einzutauchen, wird z. B. in dem Projektionsspiel in der Zeit deutlich, wenn das Kind das Pronomen »du« sehr häufig und mit großem Vergnügen verwendet: »Du … du … du.« Was auch immer zu ihm gesagt wird, es wird dem/der Anderen zurückgegeben.

      Die Fantasie, der Mut zur Entdeckung, der Einsatz des Körpers, um Veränderungen im Kontakt mit der Umwelt herbeizuführen, der Tanz als expressive Bewegung in der Welt – dies sind die Fähigkeiten, die der Organismus im Laufe des Lebens mithilfe dieses Bereichs entwickelt. Er drückt die Fähigkeit aus, sich dem/der Anderen anzuvertrauen.

      Wie es bei der Introjektion eine Fähigkeit und ein Vergnügen daran gibt, sich die Welt im Selbst anzueignen, handelt es sich hierbei um eine Fähigkeit und ein Vergnügen daran, sich auf diese Welt einzulassen.

      Eine Desensibilisierung der Kontaktgrenze birgt das Risiko, dass die Projektion als Versuch entsteht, eine Angst aufzulösen, ohne den/die Andere(n) wahrzunehmen, was zu paranoiden Erfahrungen führt (der/die Andere, auf den/die ich projiziere, ist unfähig oder böse).

      3.4 Der Bereich der Retroflexion. Die Fähigkeit des Being-with, während

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