Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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die TherapeutIn intuitiv innerhalb des Setting laufend arbeitet. Dabei findet kein expliziter Rückgriff auf ein Tertium statt. Eine weitere Grundlage des Textes stellt die Interpretation des theoretischen Referenzmodells von Perls und Goodman dar, gemäß dem berühmten Spruch, dass »Diagnose und Therapie derselbe Prozess sind«. Den Abschnitt in ihrem Werk Gestalttherapie, in dem es um die »extrinsische Interpretation« geht, wertet der Text als mögliche theoretische Erklärung, weshalb man diagnostische Instrumente »außerhalb« des Settings nutzen sollte. Landkarten können solche Instrumente sein, die der TherapeutIn helfen, sich zu bewegen und zu orientieren und dabei die folgenden Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren: die Notwendigkeit einer »Fixierung« und Standardisierung von Charaktertypen und Kategorien des Unwohlseins, die im »intrinsischen« Moment der Diagnose nicht vorkämen, wäre hier angebracht. Wir sehen uns der Lösung einer raffinierten gestalttherapeutischen Aporie gegenüber, die jedoch mit Sicherheit nicht im Einklang mit dem Text von Perls und Goodman steht.

      Was Perls und Goodman in diesem Abschnitt meinen, ist keine »Arbeitsteilung« zwischen intrinsisch und extrinsisch, sodass die wahrnehmende therapeutische Handlung innerhalb eines Settings auf einem ersten Level und eine anschließende Reflexion und Orientierung auf einem zweiten Level stattfinden würde. Das mag für uns von Vorteil sein, und wir haben ja auch tatsächlich die Freiheit, den Text auf verschiedene Arten auszulegen, doch zuerst muss man anerkennen, dass es von einem philologischen Standpunkt aus nicht so ist. Perls und Goodman machen ganz deutlich, dass die Gestalttherapie ausdrücklich weit von jeglichem extrinsischen Gebrauch von Interpretation und Diagnose entfernt ist, den die Begründer für schädlich und nutzlos halten, während die Umsetzung einer Interpretation, eine intrinsische Diagnose, typisch gestalttherapeutisch ist. Das ist die Intervention, die die TherapeutIn in dem Setting initiiert, nicht ohne das Tertium der Theorie, doch mit einer so flexiblen, »biegsamen« diagnostischen Theorie an der Hand, dass sie sie angepasst und »innerhalb« statt außerhalb des Settings angewandt werden kann.

      Es ist so, als würde Gestalttherapie immer wieder betonen: Wir kommen nicht ohne ein diagnostisches Modell aus, da das Tertium grundlegend wichtig ist, um nicht in symbiotischen Wahnsinn zu verfallen. Dieses theoretische Bezugsmodell, das uns rettet, muss jedoch so dicht am Erleben und so sehr in der Lage sein, »darüber zu denken«, dass die TherapeutIn es innerhalb des Settings selbst, innerhalb der Sitzung, »einsetzen« und »sich darauf einlassen« kann.

      Und hier kommen wir zum zweiten Kritikpunkt, dem des hermeneutischen Hintergrunds. Obwohl das Konzept des Essays hervorragend ist, fehlt eine angemessene Berücksichtigung eines spezifischen und wichtigen Aspekts der gestalttherapeutischen Vision vom therapeutischen Prozess. Wenn wir Erleben »denken« und dicht am Erleben sein sollen, dann müssen wir zunächst einräumen, dass die Substanz, aus der das Erleben besteht, die Zeit ist. Ein flexibles Modell zur Verfügung zu haben bedeutet, mit einem diagnostischen Instrument arbeiten zu können, das der TherapeutIn hilft, Sprunghaftigkeit und Blockaden von Erleben im Rahmen eines zeitlichen Verlaufs zu interpretieren. Daher kann sie sich bewusst und kreativ innerhalb der verschiedenen Momente einer therapeutischen Reise verorten. Wenn die beziehungsorientierte und die kontextuelle Perspektive, die der Essay beleuchtet, für eine gestalttherapeutische Diagnose unverzichtbar sind, müssen wir auch darauf hinweisen, dass es keine gestalttherapeutische Diagnose ohne eine passende Theorie der Temporalisierung geben kann (und meiner Meinung nach ohne eine fundierte Interpretation des Kontexts im Hinblick auf Figuren/Hintergrund).

      Meiner Ansicht nach sind dies die beiden Grenzen, auf die die theoretische Forschung zur Diagnose in der Gestalttherapie ausgerichtet sein muss, und dieser Essay stellt einen wichtigen Beitrag dar. Kurz gesagt, unerledigte Geschäfte. Es könnte nicht anders sein …

      Margherita Spagnuolo Lobb

      Wir dagegen versuchen, alle Erlebnisse zu erfassen und miteinander zu verknüpfen – ob nun körperliche oder seelische, sensorische, emotionale oder sprachliche –, denn das deutliche Figur/Hintergund-Verhältnis geht aus dem einheitlichen Zusammenwirken von »Körper«, »Seele« und »Umwelt« hervor (all diese Ausdrücke sind Abstraktionen).

      (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Band 2, 123)

      1. Die Frage der Entwicklungs-Theorie in der Gestalttherapie

      Das Hier-und-Jetzt, das die PatientIn auf körperlicher Ebene erlebt, ist eine kreative Gestalt. Sie fasst die in vorhergehenden Kontakten integrierten körperlichen und sozialen Beziehungsschemata (das Being-with durch den Körper und durch die soziale Definition des Selbst) und die Intentionalitäten zusammen, die den aktuellen Kontakt zwischen PatientIn und TherapeutIn unterstützen. Es ist also von grundlegender Bedeutung, sich auf eine Entwicklungsperspektive zu beziehen, um die Entwicklung der Kontaktmodalitäten mit dem/der signifikanten Anderen und der Umwelt im Allgemeinen zu verstehen.

      Bis in die 1980er-Jahre betrachtete es die internationale Gestaltgemeinschaft jedoch als zwecklos, sich auf eine Entwicklungstheorie zu beziehen, da die psychotherapeutische Arbeit im Hier-und-Jetzt stattfindet. Die Verwendung theoretischer Schemata (diagnostischer und entwicklungsbezogener) wurde als Absurdität angesehen, als eine De-Fokussierung (seitens der TherapeutIn) des aktuellen Erlebens im Kontakt zugunsten einer Deutung der Blockaden der Vergangenheit. Nach dem gestalttherapeutischen Verständnis dieser Zeit wäre das ein Schritt zurück zur Notwendigkeit der Auslegung und damit zu fertigen Interpretationen der PatientIn gewesen. Solche Interpretationen hätten die Unmöglichkeit des lebendigen, aktuellen Kontaktes impliziert, den die PatientIn mit der TherapeutIn und ihrer Umwelt aufbaut.

      In den 1980er-Jahren erzwang dann der soziale Wandel eine Weiterentwicklung dieser humanistischen Konstrukte: Durch die Zunahme schwerer Störungen entstand die Notwendigkeit einer entwicklungsbezogenen Perspektive sowie des Einsatzes von diagnostischen Schlüsseln. Außerdem erkannte man, dass die Lebendigkeit des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn eher verbessert als verschlechtert wird, wenn man sie durch die Linse eines theoretischen Bezugsrahmens betrachtet, der im Einklang mit der Methode steht.

      Seitdem hat sich eine gestalttherapeutische Denkweise bezüglich der menschlichen Entwicklung herausgebildet. Die Herausforderung für diesen Ansatz besteht jedoch auch heute noch in der Nutzung eines theoretischen Bezugsrahmens, der von dem Erleben der PatientIn und der TherapeutIn im Hier-und-Jetzt der therapeutischen Situation ausgeht. Gleichzeitig haben sich auch die Entwicklungstheorien grundlegend verändert.

      Von der »Entwicklungspsychologie«, die den Übergang von der Kindheit (unreif und sich verändernd) zum Erwachsensein (reif und ausgeglichen, ohne weitere Veränderungen) untersuchte, gab es in den 1980er-Jahren eine Bewegung hin zum Konzept der »Psychologie des Lebenszyklus«. Sie geht davon aus, dass alle Phasen des menschlichen Lebens von Wandel gekennzeichnet sind. Sowohl Faktoren, die dem Menschen innewohnen (ihn reifen lassen), als auch Faktoren, die von außen auf ihn einwirken (z. B. umweltbezogene Faktoren), schaffen Bedingungen für die Destrukturierung existierender Gleichgewichte und für den Übergang zu neuen Synthesen, die die Ausführung weiterer Entwicklungsaufgaben ermöglichen (wie in Eriksons Prinzip der epigenetischen Stufen, 1982). Das Konzept des Lebenszyklus und das Konzept der epigenetischen Landkarte sind mit der Vorstellung verknüpft, dass das Leben oder jeder beliebige Entwicklungsweg aus Phasen besteht. Sie sind von Bedürfnissen, Fähigkeiten, speziellen existenziellen Themen und Aufgaben gekennzeichnet, die zu einer weiteren Reifung führen. Die auf diese Weise charakterisierten Phasen sind durch einen fortlaufenden und kumulativen Prozess miteinander verbunden, der schlussendlich zur Beziehungsreife führt, mit anderen Worten: zur Fähigkeit, funktionale Kontakte aufzubauen, die nährend für das Individuum selbst und für die Gruppe (oder für die Umwelt im Allgemeinen) sind. Diese Sichtweise der Entwicklung hat Daniel Stern in seinen Studien (1985) gründlich analysiert (vgl. Carroll 1999; Staemmler 2013; Wirth 2012). In Anlehnung an Sterns Entwicklungskonzept nenne ich die gestalttherapeutische

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