Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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Phasen kumulativ wirken, sodass jede Phase die Kompetenzen der vorangegangenen Phasen voraussetzt, geht das Konzept der Bereiche von klar differenzierten Kompetenzen aus. Sie entwickeln sich im Laufe des gesamten Lebens kontinuierlich weiter und interagieren, was die Harmonie (wir könnten auch sagen: die Gestalt) der aktuellen Kompetenzen eines Menschen fördert (s. Abb. 2).

      Wenn wir den Beziehungsprozess einer PatientIn und seine Entwicklung betrachten und dabei im Einklang mit der gestalttherapeutischen Epistemologie bleiben wollen, erklärt es sich in Anbetracht dieser Prämissen von selbst, dass wir nicht darüber nachdenken, ob in einem bestimmten Stadium bestimmte entwicklungsbezogene Aufgaben erfüllt sind. Im Vorhinein Entwicklungsziele zu formulieren, birgt das Risiko einer externen Beurteilung des Erlebens des Subjekts. Wenn wir in Entwicklungszielen denken, sind wir gezwungen, unsere PatientInnen an diesen Zielen zu messen. Wir müssen verhindern, dass die Kontaktmodalitäten, auf denen unsere Theorie basiert (Introjektion, Projektion usw.) zu Stadien werden, die es zum Erlangen der Beziehungsreife eines nach dem anderen zu erreichen gilt. Vielmehr sollte man sie als Bereiche betrachten. Der Bereich bezeichnet eine beziehungsorientierte Fähigkeit, die im Hintergrund des Erlebens präsent ist und die an einem bestimmten Punkt der menschlichen Entwicklung zur Figur wird und dabei mit anderen Fähigkeiten oder Bereichen interagiert.

      2. Diachrone und synchrone Ebenen in der Psychopathologie

      Meiner Meinung nach muss ein beziehungsorientierter prozeduraler und phänomenologischer Ansatz wie die Gestalttherapie nicht nur die »gegebene« Situation betrachten – und damit den Hintergrund der entwicklungsbezogenen Erfahrung einer PatientIn (diachrone Ebene) – sondern auch die Figur des aktuellen Unwohlseins und der Kontaktintentionalität, die sie zum Abschluss bringen möchte (synchrone Ebene).

      Nehmen wir den Fall eines Patienten, der sich als Kind immer übergab, wenn er morgens zur Schule gehen sollte. Er hielt die Anspannung nicht aus, die er in diesem Augenblick des Tages in der Familie spürte. Und er bekam keine Unterstützung bei dem, was ihm bevorstand: aus dem Haus und zur Schule zu gehen und dort neue und eventuell belastende Erfahrungen zu machen. Dieses Kind ist inzwischen erwachsen und der Erwachsene, zu dem sich dieses Kind entwickelt hat, kommt zur Therapie, um die Probleme zu bewältigen, die er in seiner aktuellen Familie hat. Die Figur ist das Verlassen des Hauses in einem Moment, in dem er eine Anspannung spürt, die er meint nicht aushalten zu können. Und sie ist der Wunsch, die Übelkeit zu unterdrücken und sich in seiner neuen Familie »nicht zu übergeben«, um Möglichkeiten für die Auflösung der Anspannung zu fördern, wie er es als Vater und Ehemann tun sollte. Der Hintergrund der Erfahrung dieses Patienten ist die Entwicklung der Kontakte des Kindes im heutigen Patienten: Wie hat er im Lauf der Jahre die Fähigkeiten ausgeübt, in engen Beziehungen zu introjizieren, projizieren, retroflektieren (siehe unten: Beschreibung der Bereiche), wie stand das Übergeben für eine gescheiterte oder resiliente Kontaktmodalität und welche körperliche Unterstützung (Atmung, Beherrschung des Zwerchfells usw.) erfährt er noch immer im Bewusstsein seines Körpers?

      Die GestalttherapeutIn braucht Werkzeuge, um die Ko-Kreation der therapeutischen Kontaktgrenze zu bewerkstelligen. Außerdem braucht sie eine Landkarte, die es ihr ermöglicht, eine Richtung in der Entwicklung der PatientIn zu finden, wie sie sich in der klinischen Evidenz und damit im Behandlungssetting präsentiert. Sowohl die tatsächliche Evidenz im Kontakt als auch der Entwicklungsprozess haben mit dem gestalttherapeutischen Prinzip der kreativen Anpassung zu tun. Wir müssen also beschreiben, wie sich die kreative Anpassung des Patienten mit der Zeit in signifikanten Beziehungen entwickelt hat. Für uns ist es hilfreich abzuschätzen, nicht ob die PatientIn bestimmte Ziele erreicht hat, sondern wie sie die Kontaktintentionalität durch kreative Anpassung an schwierige Situationen erfüllt hat. Wir interessieren uns für den körperlichen Prozess, mit dessen Hilfe sie die Kontaktintentionalitäten und ihre entwicklungsbezogene Kontextualisierung erfüllt. Wir könnten es auch so formulieren: Wir interessieren uns für die »Musik«, die aus den kreativen Entscheidungen entsteht. Diese Entscheidungen trifft die PatientIn vor einem erlebnisorientierten Hintergrund, der sich mithilfe einer Entwicklungslandkarte deuten lässt.1

      In der Gestalttherapie sind die Kontaktintentionalität und ihre Erfüllung durch kreative Anpassung der Leitfaden zur Arbeit mit dem körperlichen Prozess. Die Gegenseitige Synchronisierung, auf die Winnicott (1974), Odgen (1989), Fogel (1992; 1993) und Beebe et al. (1992) bereits in ihren Modellen der interaktiven Regulierung bei Säuglingen hingewiesen haben, ist für uns ein wichtiges Beobachtungskriterium, sowohl bei der Beschäftigung mit dem Hintergrund als auch in dem Moment, in dem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Figur des therapeutischen Kontaktes richten. Wir erkennen uns selbst im Kontakt mit dem/der anderen, das Selbst ist ein Kontaktprozess (siehe Spagnuolo Lobb 2005a), der an der Grenze entsteht: Man entdeckt sich selbst im Kontakt mit dem/der anderen wieder. Umgekehrt deckt sich die Blockade der Entwicklung mit einer Blockade des körperlichen Prozesses, was immer eine Verminderung (oder einen Verlust) von Sensibilität (des Mit-allen-Sinnen-anwesend-Seins) und damit eine verminderte Fähigkeit impliziert, sich auf den/die andere(n) einzustellen.

      Die Entwicklung der Bereiche ist immer ein Prozess der Selbstregulation des Organismus-/Umwelt-Kontaktes: Die Fähigkeit zu introjizieren entwickelt sich zum Beispiel mit mehr oder weniger Angst auf der Grundlage der Unterstützung, die man im Kontakt mit der Umwelt bekommt. Jeder Bereich kann innerhalb eines Erfahrungskontinuums erlebt werden, das von vollem Kontakt bis zur Desensibilisierung reicht.

      In einem Podiumsgespräch mit Elisabeth Fivaz2 (mit der meine Gruppe in fruchtbarem Dialog über die »Gestaltdimensionen« im Rahmen des Lausanne Trilogue Play steht), hatten wir den Fall eines 18 Monate alten Kindes, des Protagonisten eines Anschauungsfilms, das eine offensichtliche Spannung zwischen seinen Eltern »löste«, indem es sie zum Singen brachte: Es war zum Dirigenten geworden, der die Energien des Feldes harmonisierte, die miteinander in Konflikt gestanden hatten. Obwohl es eine Rolle spielte, die ihm eigentlich nicht zukam (sich um die Eltern zu kümmern), hat dieses Kind eine entzückende Harmonie entstehen lassen, bei der alle miteinander im Einklang standen. Von der Warte der Entwicklungstheorien aus betrachtet ist dieses Verhalten des Kindes »atypisch« und seinem Alter nicht angemessen: Man kann es nicht als »gesund« oder »typisch« ansehen, wenn ein Kind als Therapeut seiner Eltern fungiert. In der Gestalttherapie gilt dieses Verhalten als angebracht und kreativ, da es dem Kind erlaubt, nicht nur seine Kontaktintentionalität gegenüber seinen Eltern zu erfüllen (es erreicht sie, es ist erfolgreich), sondern auch eine Lösung zu finden, mit der sich alle besser fühlen (die Eltern sind glücklich und bewegt, sie sehen die Schönheit in der Geste ihres Sohnes).

      Es ist offensichtlich, dass die Lösung des Kindes weder das Problem zwischen den Eltern behebt noch die einzige, unveränderliche Reaktion auf Spannungssituationen bleiben wird. Doch sie löst das Problem, das in diesem Moment im phänomenologischen Feld entstanden war, und gibt dem Kind auf diese Weise eine wichtige Bestätigung für sein Wachstum. In dem Maße, in dem die beteiligten Personen (die Eltern und weitere Zeugen) sensibel sind und den Versuch des Kindes wahrnehmen, ein Problem kreativ zu lösen, wird sich das Kind anerkannt fühlen. Es wird in der Lage sein, die Gestalt abzuschließen (es wird in dieser Beziehung keine unfertige Angelegenheit entwickeln) und wird in Zukunft frei sein, andere Entscheidungen zu treffen. Sollte sich das Verhalten jedoch häufiger wiederholen, wäre das ein Zeichen für Desensibilisierung: Das Kind würde es ohne die Lebendigkeit des spontanen Kontakts ausführen, und genau das wäre das Problem, nicht das Verhalten selbst.

      Wie angemessen die Lösung ist, die das Kind findet, wird anhand eines ästhetischen Kriteriums beurteilt, das vor allem körperlichem Erleben innewohnt: Es ist der strahlende Körper des Kindes und der Körper der Eltern, aktiviert durch eine erfreuliche Überraschung, die unser diagnostisches Kriterium ausmachen, keine im Vorhinein festgelegten Kriterien außerhalb des körperlichen Erlebens. Bei der Ausübung unseres Berufs als Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen ist es nicht hilfreich, wenn wir im Sinne vorab formulierter Stadien oder Normen denken, an denen wir das körperliche Erleben des Kindes messen. Zu beurteilen, wie das Kind die gegebene Situation im Hinblick auf eine Anerkennung

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