Das Karpatenschloss. Jules Verne
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– Gute Nacht, Schäfersmann!«
Frik pfiff die Hunde heran, ließ diese die Herde zusammentreiben und zog rasch in der Richtung nach Werst davon.
Der Jude, der ihm nachschaute, schüttelte leicht den Kopf, als ob er es mit einem halben Narren zu tun gehabt hätte.
»Hätt‘ ich das gewusst,« murmelte er vor sich hin, »dann würd‘ ich ihm das Fernrohr etwas teurer verkauft haben!«
Nachdem er dann seine Waren am Gürtel und auf den Schultern wieder geordnet, schlug er, am rechten Ufer der Sil hinabwandernd, den Weg nach Karlsburg ein.
Wohin er ging, hat für uns keine weitere Bedeutung. Er taucht nur dieses einzige Mal in unsrer Erzählung auf. Der Leser wird ihn nicht wieder zu sehen bekommen.
ZWEITES KAPITEL
M
ag es sich um Felsenmassen handeln, die in grauer Vorzeit, als der Erdboden noch nicht zur Ruhe gekommen, von der starken Hand der Natur übereinander getürmt worden waren, oder um Bauwerke der schwachen Menschenhand, über die der Hauch von Jahrhunderten hinweg gestrichen ist – immer bleibt der Anblick nahezu derselbe, sobald man sie aus einigermaßen größerer Entfernung betrachtet. Was rohes und was künstlich bearbeitetes Gestein ist – beides verschmilzt sehr leicht ineinander. Von Weitem weisen beide dieselbe Färbung, dieselben Züge und denselben Verlauf der Linien nach der Perspektive auf und gleichmäßig deckt sie die grünliche Patina der Jahrhunderte.
So verhielt es sich auch mit der Burg – gewöhnlich »das Karpatenschloss« genannt. Es wäre ganz unmöglich gewesen, seine unbestimmten Formen auf jener Hochfläche von Orgall, die es zur Linken des Vulkangipfels krönte, deutlich zu erkennen, vorzüglich, da sich das Bauwerk von den dahinter noch aufstrebenden Bergketten nicht besonders abhebt. Was man versucht ist, für einen hohen Wartturm zu halten, ist vielleicht nichts als ein steil aufsteigender schlanker Felsen. Wer darauf hinblickt, glaubt wohl den Zinnenrand einer Mauer da zu erkennen, wo sich nur ein ausgezackter steiniger Grat ausdehnt. Das ganze Bild ist schwach, unbestimmt, verschwommen. Nach der Ansicht verschiedener Touristen besteht das ganze Karpatenschloss überhaupt nur in der Einbildung der Bewohner des Comitats.
Offenbar hätte man sich von dem wahren Sachverhalt sehr einfach überzeugen können, wenn Jemand mit Hilfe eines landeskundigen Führers aus Vulkan oder aus Werst den Talweg durchschritten, dann die Berghöhe erstiegen und die viel genannte Burg an Ort und Stelle in Augenschein genommen hätte. Leider wäre ein Führer nur noch weit schwieriger aufzutreiben, als der nach dem Schlosse leitende Weg aufzufinden gewesen. Hier, im Lande der beiden Sil, würde kein Mensch zu überreden gewesen sein, selbst gegen die reichlichste Belohnung einen Fremden nach dem Karpatenschlosse zu führen.
Lassen wir das übrigens bei Seite, so wäre von jenem alten Ritterwohnsitze etwa Folgendes zu sehen gewesen – das heißt im Sehfelde eines mächtigeren und besseren Fernrohres als durch das Nürnberger Instrument, das der Schäfer Frik für Rechnung des Meister Koltz erstanden hatte.
Acht- bis neunhundert Fuß unter dem Passe von Vulkan eine sandsteinfarbene Umfassungsmauer, begrenzt mit dichtem Gewirr genügsamer Schlingpflanzen, die sich auf eine Strecke von vier- bis fünfhundert Toisen (780 bis 975 Meter) ausdehnte und dabei den Wellenlinien des Erdbodens folgte. An jeder Ecke eine ausspringende Winkelbastion, von denen die rechts gelegene – auf der auch die berühmte Buche stand – noch ein kleines Wachthäuschen oder mehr eine Art Schilderhaus mit spitzem Dache trug; links erhoben sich mehrere von durchbrochenen Strebepfeilern gestützte Mauern und diese überragte das Türmchen einer Kapelle, deren gesprungene Glocke zum Entsetzen der Bewohner der ganzen Umgebung ertönte, wenn die Stöße des Sturmwindes sie in Bewegung setzten; in der Mitte endlich erhob sich das Schloss, bekrönt von zinnenumschlossener Plattform, mit drei übereinanderliegenden Reihen von Fenstern, deren Scheiben in Blei gefasst waren und deren unterste Reihe ein runder, terrassenartiger Balkon begleitete; auf der Plattform war schließlich eine hohe Metallstange errichtet, an deren Spitze das Kennzeichen der Feudalherrschaft, ein halb vom Roste zerfressener Wetterhahn, sich knarrend im Winde drehte.
Niemand hatte eine Ahnung davon, was jene da und dort zerfallene Umfassungsmauer umschließen mochte, und ob sich im Innern des Schlosses noch ein bewohnbarer Raum befände, ebenso wenig, ob vielleicht eine Zugbrücke und ein Ausfalltor noch den Zutritt gestatteten. Obwohl das Karpatenschloss tatsächlich besser erhalten war, als es sein Aussehen verriet, schützte es noch heute eine Art ansteckende Scheu, verstärkt von dem ländlichen Aberglauben, ebenso gut, wie es früher nur seine Donnerbüchsen, Feldschlangen, Bombarden, seine Mörser und andere Artilleriemaschinen vergangener Tage geschützt hatten.
Und doch hätte das Karpatenschloss den Besuch von Touristen und Altertumsfreunden gewiss gelohnt. Seine Lage am Rande der Hochfläche des Orgall war ausnehmend schön. Von der oberen Plattform des Wartturmes kann der Blick ungehindert bis zu den entferntesten Linien der Bergzüge hinausschweifen. Im Hintergrunde verläuft die hohe wellenförmige und launenhaft verzweigte Kette, die die Grenze der Walachei bezeichnet. Davor höhlt sich das gewundene Tal des Vulkan aus, durch das die einzige gangbare Straße zwischen den Grenzprovinzen hinführt. Jenseits des Tales der beiden Sil liegen die Ortschaften Livadzel, Lonya, Petroseny und Petrilla, die alle an den Mündungen der hier ausgebeuteten reichen Kohlengruben aufgewachsen sind. Schon fast am Horizonte liegen in malerischem Durcheinander verschiedene hohe Berggipfel aufeinander gesattelt, die am Fuße bewaldet, an den Seiten noch grün bedeckt und ganz oben kahl und öde sind und die von den steilen Gipfeln des Retyezat und des Paring[1] beherrscht werden. Noch weiter endlich als das Tal des Hatszeg und der Lauf des Maros grüßen die im Höhendunst verschwimmenden Profile der mittleren transsilvanischen Alpen herüber.
In der trichterförmigen Mitte dieses Gebietes glänzte früher ein Binnensee, in den sich die beiden Sile ergossen, bevor sie sich einen Ausweg durch die Bergmauer gebrochen hatten. Jetzt bildet die Landstrecke nur eine gewaltige Kohlenlagerstätte mit allen Vorzügen und Nachteilen einer solchen. Hochaufgemauerte Schornsteine vermischen sich mit dem Astwerk von Pappeln, Tannen und alten Buchen; ihr schwärzlicher Qualm verpestet die Luft, die früher von erfrischendem Dufte der Fruchtbäume und Blumen gesättigt war. Zur Zeit, wo diese Erzählung spielt, hatte der Minenbezirk, obwohl ihn die Industrie in ihrer eisernen Hand hielt, noch nichts von der ihm von der Natur verliehenen Wildheit verloren.
Das Karpatenschloss stammt aus dem zwölften oder vielleicht aus dem dreizehnten Jahrhundert. Unter der Herrschaft der Häuptlinge oder Woiwoden jener Zeit, trachteten Klöster, Kirchen, Paläste und Schlösser nicht minder wie Flecken und Städte danach, sich eine Befestigung zu schaffen. Herrenleute und Bauern hatten sich gegen Angriffe aller Art zu wehren. Diese Umstände erklären es, dass der alte Wall der Burg, ihre Bastionen und der Wartturm das Aussehen eines Feudalsitzes erlangten, bei dem Alles zu einer wirksamen Verteidigung vorgesehen war. Den Baumeister, der an dieser Stelle, in so gewaltiger Höhe einst die Mauern der Burg errichtet hatte, kennt Niemand; nach unverbürgter Überlieferung sollte es der Rumäne Manoli gewesen sein, der in den walachischen Sagen so vielfach gefeiert wird und der zu Curté d‘Argis das berühmte Schloss Rudolphs des Schwarzen erbaut hat.
Herrschen also Zweifel bezüglich des Architekten, so ist das doch nicht der Fall bezüglich der Familie, die diese Burg besaß. Die Barone von Gortz waren schon seit undenklichen Zeiten die Herren des Landes gewesen. Sie kämpften wacker mit in allen Kriegen, die die transsilvanischen Provinzen mit Blut düngten, und schlugen sich gegen die Ungarn, die Sachsen und die Szekler; ihr Name erklingt in den »Cantices«, den »Doïnes« (Volksliedern), in denen das Andenken an jene traurigen Zeiten fortlebt; sie führten als Devise das berühmte walachische Sprichwort: