Speyerer Altlasten. W. W. Pook
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In geübter Manier nehme ich den Tatort in Augenschein, ohne ihn zu betreten oder etwas zu berühren. Auch wenn ich nur eine holländische Psychologin bin, so ist das nicht mein erster Tatort, den ich sehe.
„Inger, mein Kind, nutz die Zeit und nimm alles auf, was wir zur Lösung der Fälle benötigen. Die Sirenen sind erst auf dem Eselsdamm, du hast bestimmt noch drei Minuten!“, zischt Gretchen in mein Genick, denn größer ist sie nicht und jedes Mal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn sie das tut.
Wie ein Kartograf teile ich den Innenraum des Geschehens in kleine Bereiche auf und speichere meine Beobachtungen. Nicht die Leiche in ihrem Blutbad hat mein Augenmerk, sondern alles drum herum.
An der linken Wand ein Glasschrank, antik aus dunklem Holz. Feines Kristall schimmert heraus, mindestens genau so alt.
Im rechten Winkel dazu steht ein schönes Sofa, Kissen und eine Decke unordentlich, als hätte Oskar noch vor kurzem darauf geschlafen.
Im Zentrum ein niederer Tisch, darauf Salzgebäck und zwei Gläser Wein, noch unberührt, wie es mir scheint.
Ein Mobiltelefon, griffbereit für die Leiche im Sessel. Gegenüber ein weiterer Sessel, das Kissen ist zerknautscht. Dort scheint der Täter gesessen zu haben, nach der Aufstellung der Weingläser zu schließen.
An der Wand zu meiner Rechten ist ein großer Fernseher angebracht, dessen moderne Art im Gegensatz zur antiken Einrichtung steht.
Die Polizeiwagen fahren von der rückwärtigen Seite die Bärengasse herein und ich nutze die letzten Momente.
Die Leiche sitzt in ihrem Sessel, die Hände in die Lehnen verkrallt. Der Kopf hängt hinten über das Kopfteil, bis zur Wirbelsäule abgetrennt.
Das Blutbad ist unaussprechlich. Selbst in die Gläser ist es gespritzt, über den Tisch bis zum leeren Sessel, an die Decke und die gegenüberliegende Wand, aber das Meiste steht unter dem Tisch, wo Oskar im Todeskampf den Teppich mit den Füßen zu einem Wulst zusammengeschoben hat.
Ulla und Gretchen nehmen die Beamten in Empfang und führen sie zu mir an die Tür zum Wohnzimmer.
Der erste Eindruck überwältigt auch sie, doch die berufliche Routine setzt sich über alle menschlichen Gefühle hinweg.
Ich setzte mich im Flur auf den Boden, mit dem Rücken zur Wohnzimmerwand und versenke in scheinbarer Übelkeit meinen Kopf auf die Knie.
Was die Beamten nicht wissen und auch nicht zu wissen brauchen, während ich so dasitze, nehme ich restliche Eindrücke in Bildern in mich auf, die mir von den jüngsten Ereignissen vor Ort erzählen.
Neugierige und auch die Presse drängen zur Vordertür herein, was aber die Polizisten sofort verhindern.
Die Verhöre beginnen und Ulla führt das Wort, während Grete dafür sorgt, dass ich noch unbehelligt bleibe. Sie, als meine Ärztin sorgt für mich, was die Beamten sofort verstehen und so verschafft sie mir die Zeit, wichtige Informationen zu sammeln.
Ein Großaufgebot an Spezialisten trifft ein, die alle Spuren sichern. Auch uns werden Fingerabdrücke abgenommen, obwohl ich die ganze Zeit über Handschuhe getragen habe.
Ich gebe Auskunft, warum ich eben zu dieser Zeit den Oskar Metzger aufsuchen wollte. Also berichte ich wahrheitsgemäß und so kurz und knapp wie möglich.
„Gegen sechs Uhr heute Morgen traf Frau Dr. med. van Potgieter bei mir in Wijk bij Duurstede in Holland ein. Bat mich, ich solle sie nach Speyer begleiten zur Beerdigung ihrer alten Klassenkameradinnen Liesel Bäcker und Maria Steiger, die wie Ihnen bereits bekannt sein dürfte, beide in der Nähe ermordet wurden.
Da sie eine gute alte Freundin von mir ist, und ich gerade nichts anderes vorhatte, fuhren wir mit dem nächstbesten ICE hierher.
Doch Frau Ulla Erler“, womit ich auf die große starke Frau zeige, die meinen Aussagen lauscht wie ein Fuchs, „empfängt uns am Bahnhof in Speyer mit der fürchterlichen Vorahnung, dass noch weitere Lehrerkollegen in Gefahr sein könnten.
Bevor ich ihren Gedankengang noch nachvollziehen konnte, stellten wir unser Gepäck in ihren Hausflur und stürmten hierher.
Was wir vorfanden, wissen Sie bereits. Ich benachrichtigte Ihren Kollegen in der Zentrale, alles Weitere ist Ihnen bereits bekannt!“
Meine Personalien werden aufgenommen, alles nur der Routine wegen und ich muss immer wieder bestätigen, dass ich das Opfer weder kannte noch mit ihm in anderweitigem Kontakt stand und allmählich wird mir die Sache sehr lästig.
Mein Magen knurrt, vom Durst gar nicht zu reden, ich sehne mich nach einem ruhigen Plätzchen, an dem ich meine Gedanken sortieren kann.
Mit einem vielsagenden Blick signalisiere ich den alten Damen, dass wir uns vom Tatort entfernen sollten. Ulla regelt das mit den Beamten, die in Anbetracht der späten Uhrzeit vollstes Verständnis zeigen. Noch einmal bestätigt Frau Erler, dass sie jederzeit in der Maximilianstraße 7 erreichbar ist, ansonsten per Handy.
Draußen herrscht trotz Regen Hochbetrieb. Die Schaulustigen sind immer noch aktiv. Die Reporter stürzen sich auf uns, aber Ulla schirmt Gretchen und mich wie eine Glucke unter den ausgebreiteten Flügeln solange ab, bis die Türen des bereitstehenden Polizeiwagens ins Schloss fallen und wir den Heimweg antreten.
Im Stillen gebe ich den alten Mädchen recht, der Fahrweg ist länger als der Fußmarsch. Dafür halten wir die Regenschirme ungenutzt in unseren Händen und brauchen nicht durch den Nebel zu laufen, der die ganze Speyerer Altstadt durchwabert als wären wir im Herzen Londons.
Die Koffer in der Hand steigen wir eine Treppe hinauf, wo sie uns die Schlafzimmer zuweist, aber für Ruhe scheint es noch nicht Zeit zu sein, denn sie befiehlt uns sofort in die Küche, zu einer ersten Krisensitzung, wie sie es nennt.
Ich streife meine nassen Sachen ab und schlüpfe in einen Jogginganzug, dann suche ich die Küche auf, in der Hoffnung, endlich etwas zu essen zu bekommen.
Erstaunt sehe ich die Alten am Tisch sitzen als wäre nichts weiter geschehen. Tuschelnd wie zwei Schulmädchen stecken sie die Köpfe zusammen und kichern aus Freude sich wieder zu sehen.
Zu meiner eigenen Freude sehe ich den Teller mit belegten Broten, verziert mit Paprikastreifen und Gurken. Salatblättchen quellen heraus und obenauf je ein Tupfer Mayonnaise. Die Schnittchen sind gut und Ulla, wie ich Gretchens Freundin nennen darf, reicht mir eine Tasse Tee. Die Freundinnen trinken zum Wiedersehen ein Glas Sekt.
„Extra trocken“, sagt Ulla. „Das erspart das teuere Lifting. Die Gesichtshaut zieht sich glatt, bis ich hinter den Ohren eine Ziehharmonika habe, die ich unter dem Haarschopf geschickt verberge!“
Gemeinsam kichern die Zwei erneut wie Schulmädchen und ich brauche etwas länger, um die Pointe zu verstehen.
Gretchens Sprache hat sich, obwohl sie seit fünfzig Jahren in Holland lebt, seit der Ankunft in Speyer merklich verändert. Deutsch ist für mich zwar wie eine zweite Muttersprache, aber ich habe schon immer Probleme mit den vielfältigen Dialekten.
Also studiere ich ausgiebig die belegten Schnittchen, wähle nur die mit Mayonnaise als Basis und betrachte die Frauen.
Ulla