Am Himmelreich ist die Hölle los. Ilka Silbermann
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Er ging zum Fenster und starrte blicklos hinaus. Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf. Bilder von romantischen Augenblicken, die sie miteinander verbracht hatten und die dann äußerst leidenschaftlich endeten. Ein Feuerwerk der Gefühle. Er war Wachs in ihren Händen.
Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Kaumuskeln hervortraten und sein Gesicht noch kantiger machten.
Entschlossen drehte er sich um, straffte seine Schultern und atmete tief ein. Abstand! Er brauchte erst einmal Abstand von dieser Frau. Die Gefahr, wieder schwach zu werden, war durchaus berechtigt, denn er hatte wieder ganz deutlich die Sehnsucht nach ihrem Körper gefühlt.
Was er nicht spürte, war, dass sich Gerda und Rolf noch in der Wohnung aufhielten und ihn beobachteten.
„Ich sag doch, mit dem stimmt was nicht!“, flüsterte Rolf seiner Frau zu.
Gerda, noch immer verstört, schaute nur besorgt zu ihm hinüber.
Mark suchte in den Kontakten eine Nummer heraus und wählte sie. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es eine gute Zeit war, um das Telefonat zu führen. Später Vormittag. Perfekt.
„Foster hier. Sie baten um Rückruf“, eröffnete Mark das Gespräch. – „Sicher. Kein Problem. Ich denke, dass ich fristgerecht fertig bin.“ Er lauschte in den Hörer und erwiderte dann: „Es wäre aber auch wichtig, dass ich vorher noch einen Probelauf starten dürfte. – Ist die entsprechende Abteilung darüber bereits informiert?“ Konzentriert lauschte er der Antwort. – „Wunderbar! Ich melde mich dann, wenn es so weit ist. Auf Wiederhören.“
Er legte das Smartphone auf den Tisch, packte die Kleidungsstücke aus und verstaute sie. Anschließend ging er schon wieder vergnügt nach unten.
„Schriftsteller ist er jedenfalls nicht.“ Rolf wollte Mark schon folgen. Doch Gerda hielt ihn zurück. „Gönn mir eine Pause.“
***
„Ja, natürlich. Wir werden schon herausbekommen, was mit diesem Mark Foster los ist.“ Rolf bewegte sich wieder auf seine Frau zu und betrachtete sie erneut prüfend.
„Etwas sehr Merkwürdiges ist gerade geschehen, Rolf.“
Wieder wurde ihr Bild durchscheinender.
„Du siehst wirklich nicht gut aus. Was kann ich für dich tun?“ Rolf war bestürzt.
„Am liebsten würde ich mich hinlegen oder wenigstens hinsetzen. Ich fühle mich so schwach.“
„Versuch es doch mal. Vielleicht geht das.“
Gerda blickte sich um, schaute ins Schlafzimmer, doch dann entschied sie sich dagegen, das Bett auszuprobieren. Denn dort stand der Spiegel genau gegenüber.
Sie steuerte das Ostfriesensofa an, das an der Wand gegenüber dem Tisch stand. Der große Wunsch, sich dort auszustrecken, und die Erinnerung an alte Zeiten schienen tatsächlich zu bewirken, dass Rolf sie dort in einer liegenden Position ausmachen konnte.
„Wunderbar!“, rief er enthusiastisch. „Es klappt.“
„Ja, tatsächlich.“ Gerda bemühte sich, sich nicht zu bewegen, um diesen Zustand zu erhalten.
Rolf betrachtete sie fasziniert eine Weile, dann wagte er sich an ihre Seite. „Wie fühlst du dich jetzt?“
„Besser. Meine Energie scheint sich wieder gleichmäßiger in meinem ‚Körper‘ zu verteilen. Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären kann. Warte nur noch einen Augenblick, dann muss ich dir etwas sagen.“
Gerdas Stimme wurde zunehmend lebhafter.
Rolf atmete erleichtert auf. Was ja nicht möglich war, aber zumindest hatte er diesen Eindruck.
Schneller als gedacht, richtete sich Gerda auf, blieb aber noch in einer sitzenden Position.
„Vorhin“, begann sie übergangslos, „als ich in den Spiegel sah – weißt du noch?“
„Ja, sicher!“
„Da war etwas sehr Merkwürdiges!“ Gerda sah Rolf an und überlegte, wie sie ihm es am besten beibringen könnte.
„Schieß los! Spann mich nicht so auf die Folter. Was war so merkwürdig?“
„Meine Eltern waren da drin und winkten mir zu!“
„Was?“
„Ja, meine verstorbenen Eltern waren im Spiegel und, hinter ihnen nur schemenhaft zu sehen, die ganze Verwandtschaft, glaub ich. So schnell konnte ich sie nicht erkennen.“
„Ist ja ein Ding. Und sie winkten dir zu?“
„Ja. Ich war ganz schön erschrocken, kann ich dir sagen. Danach fühlte ich mich noch schwächer.“
Rolf sah den Stuhl an und versuchte sich zu setzen. Auch ihn übermannte nun eine eigenartige Schwäche.
„Wie hast du das gemacht, dass du liegen konntest?“, fragte Rolf und ließ den Stuhl nicht aus den Augen.
„Ich habe es mir ganz doll gewünscht und mich an die Zeiten damals erinnert, wie es sich anfühlte, wenn ich mich hingelegt hatte.“
„Okay, ich probiere es.“ Es dauerte einen Augenblick, und dann nahm Gerda ihn sitzend auf dem Stuhl ihr gegenüber wahr.
„Toll!“, rief sie. „Es funktioniert.“
„Ja, das brauchte ich aber auch gerade. Deine Nachricht ist irgendwie umwerfend. Wenn man bedenkt, dass wir schon vier Jahre tot sind und in dieser Zeit noch nie Kontakt zu anderen Verstorbenen hatten. Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass wir beide hier alleine sind. Jetzt das.“ Rolf schien seinen Kopf in seine Hände zu stützen. Dann richtete er sich wieder auf. „Was hast du noch gesehen? Waren sie einfach nur da und winkten dir zu?“
Gerda schien zu überlegen und sich die Situation noch einmal vor „Augen“ zu führen. „Ich blickte in den Spiegel, weil du sagtest, ich sehe so anders aus. Ein Reflex aus alten Zeiten, denn ich habe mich in diesen Jahren noch nie im Spiegel sehen können. Auch diesmal nicht, aber da waren plötzlich meine Eltern. Es war, als würde ich durch ein Tor, oder nein, eher wie in einen Fernseher schauen und dort eine andere Welt sehen, die aber keine Formen drumherum hatte. Unweit waren meine Eltern zu sehen und weiter hinten eine Ansammlung von Menschen, die ich nur schemenhaft wahrnahm, wusste aber, dass sie meine Verwandten waren. Meine Eltern konnte ich dagegen deutlich sehen. Sie lächelten mir freudig entgegen und winkten. Ja, sie freuten sich aufrichtig, mich zu sehen. Dabei haben sie sich im wahren Leben immer viel Sorgen um mich gemacht und haben mich nie verstanden. Wie du weißt, hatten wir oft Meinungsverschiedenheiten. Aber nun war so viel Liebe in ihnen.“
Gerda richtete sich auf und schwang ihre Beine, die jetzt wieder deutlicher wahrnehmbar waren, zu Boden. Es schien, als sei ihre Energie zurückgekehrt.
Rolf sah ein wenig verwirrt aus. Er wusste noch nichts damit anzufangen. Welche andere Welt gab es da noch?