Crow Kingdom. Tino Falke

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Crow Kingdom - Tino Falke

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All die Leute, deren letzte Tat es war, die Arme in die Luft zu werfen, um den Fahrtwind besser zu spüren, oder sich Zuckerwatte in den Mund zu stopfen.

      Im Niagara Go-Karts and Mini Putt in Kanada wurde 2006 ein zwölfjähriges Mädchen skalpiert, als ihr Pferdeschwanz in den Motor ihres Gokarts geriet.

      2009 starb eine 18-Jährige in Großbritannien, stranguliert von ihrem eigenen Schal, der sich auf dem Cambridgeshire Raceway ebenfalls in einem Kartmotor verfangen hatte.

      Unsere Gokartbahn wird niemanden mehr verletzen. Die halbe Strecke ist abgesackt, die bunten Wagen liegen verschüttet in einem Graben, der vor einer Stunde noch ein Untergrundtunnel für das Personal war. Während ich versuche, den Rissen und Löchern im Boden auszuweichen, kommt mir eine Gruppe Parkgäste entgegen. Ihre »I ♥ Corona Kingdom«-Shirts sind blutverschmiert oder verkohlt, ihre Taschen voll mit Andenken an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Sie weinen und schreien und versuchen, zu den Ausgängen am Rand des Geländes zu gelangen. Ich bin die Einzige, die in Richtung Parkmitte läuft, schwer atmend und durchnässt von der Hitze im Innern des Kostüms. In den riesigen Füßen schwappt mir mein Schweiß um die Knöchel. Haar klebt mir an der Stirn und im Nacken. Stöhnend vor Schmerzen erreiche ich das Geisterhaus.

      Vincents Villa thront auf einem Hügel, umgeben von gekrümmten Zedern, umrahmt von einem Eisenzaun. Das alte Gebäude sah schon immer einsturzgefährdet aus, jetzt steht es in Flammen. Bruchstücke eingestürzter Wände liegen auf den Schienen von Lunaphobia. Der Weg der Achterbahn führt steil in das verfallene Haus und durch eine Öffnung im Hügel wieder ins Freie, wie immer. Anders als sonst setzt eine Fahrt jetzt nahtlos an die vorherige an. Das Geschrei derer, die schon wer weiß wie lange darauf gefangen sind, ist bereits stillem Jammern gewichen. Unser Plan sah anders aus.

      Ich kann Donnie nirgends sehen, also laufe ich zwischen den falschen Grabsteinen entlang und durch den versteckten Personaleingang, dann bahne ich mir den Weg in Richtung Dachgeschoss. Wie die kolossale Achterbahn nebenan, wie alle anderen Attraktionen, ist auch die Geisterbahn noch in vollem Gange. Durch die Boxen hallt das hohle Gelächter unsichtbarer Gespenster, lange tot, doch noch immer mit Einfluss auf die Lebenden. In den Pausen zwischen Wolfsheulen und Kettenrasseln hört man die echten Schreie der Menschen draußen im Park. Ich kann nur hoffen, dass sich niemand mehr in den Sargwagen befindet und durch den brennenden Teil der Villa gefahren wird. Es sollte nie irgendwer zu Schaden kommen.

      Der Weg hinter den Kulissen ist teilweise von weiteren Feuern versperrt, also zwänge ich mich zwischen der Dekoration am Streckenrand auf die Schienen der Geisterbahn. Die Särge fahren langsam, ich muss nicht befürchten, überrollt zu werden, doch je weiter ich komme, umso gefährlicher wird der Weg. Ich laufe durch einen Teil der Attraktion, der einem düsteren Wald nachempfunden ist. Zu beiden Seiten der Strecke stehen mannshohe Puppen zwischen den brennenden Baumattrappen, Zombieversionen der Tiere aus dem Park, die sich bewegen und unerwartet auf die Wagen zuschnellen können. Was sonst selbst Kinder kaltlässt, ist jetzt zu grotesken Mischwesen verwachsen und offenbart die Mechanik unter den Fassaden aus Gummi und Plastik. Frosch und Dachs sind aneinandergelehnt und in einer Umarmung verschmolzen, ihre Gesichter tropfen auf den Boden, ihre Roboteraugen drehen sich ziellos hin und her. Schabe ist auf den Rücken gefallen und rudert mit den dünnen Metall­armen, als würde sie wirklich versuchen, wieder aufzustehen. Bevor ich das Ende des Gangs erreicht habe, zuckt eine der Puppen auf mich zu, halb untoter Schwan, halb entblößte Maschine. Obwohl um mich herum alles zerfällt, kann ich nicht anders, als kurz einzufrieren. Der mechanische Zombieschwan schlägt mit den Flügeln und bewegt wortlos den Schnabel, dann verschwindet er wieder in der Waldkulisse. Ich verharre eine Sekunde, zwei, drei, aber es ist sinnlos, darauf zu warten, dass sich mein Puls wieder beruhigt. Zwischen den künstlichen Bäumen hindurch gelange ich zurück in den Gang nur für Personal.

      Natürlich muss ich an den Six Flags Great Adventure-Park in New Jersey denken. Im Spukschloss dort war 1984 eine Glühbirne ausgefallen, und ein Gast hatte versucht, mit einem Feuerzeug für Licht zu sorgen. Die Schaumstoffwände der Attraktion fingen Feuer, und acht Teenager kamen ums Leben. Die Hälfte der Überlebenden erlitt Rauchvergiftungen. Würde man Donnie fragen, er könnte einem das genaue Datum und die Namen aller Opfer nennen.

      Ich versuche, nicht zu tief einzuatmen, während ich die Treppe zum Dachboden hinaufsteige, dann habe ich es geschafft. Keuchend stolpere ich durch die Tür in unseren Pausenraum. Außer mir ist niemand da. Auf der Couch liegt Biancas Jacke. Auf dem Tisch davor steht ein einsamer Becher Corona Cola. Es riecht nach Rauch. Ich zerre den Vorhang vom großen Rundfenster, dem einzigen Fenster im Raum, zwei Etagen über dem Eingang zu Vincents Villa, und öffne es für frische Luft. Normalerweise soll der Vorhang immer geschlossen bleiben, ansonsten könnten alle im Park sehen, dass in den flauschigen Tierkostümen ganz normale Menschen stecken, die in ihren Pausen rauchen und sich unterhalten, ganz alltäglich, als befänden sie sich nicht am schönsten Ort der Welt. Die verbliebenen Gäste haben allerdings anderes zu tun, als in meine Richtung zu schauen.

      Donnie ist nicht hier, aber vielleicht ist er noch in Sichtweite, also stelle ich mich auf den schmalen Balkon vor dem runden Fensterrahmen und blicke in den Park hinaus. Erst jetzt sehe ich das gesamte Ausmaß der Zerstörung. Wo vorher die Personaltunnel verliefen, ziehen sich nun metertiefe Schneisen durch den Park. Was vom Feuerwerk verschont wurde, wird nach und nach von den brennenden Katzen entzündet. In der Ferne explodiert ein weiterer Royal Raven Burger. Nur die Schwanenboote auf dem See sind von alledem unberührt. Zwischen den weißen Zweisitzern treiben Dutzende Körper, zu weit weg, als dass ich erkennen könnte, ob sie noch leben. Dahinter ragt das Riesenrad in den Nachthimmel, ein träge rotierender Lichterkranz, nachdem alle Gondeln durch das Feuer am Eingang der Attraktion geführt wurden. Nichts läuft auch nur annähernd, wie Aram es sich vorgestellt hat.

      Erst jetzt fällt mir auf, dass auch die Parkmusik noch läuft. Um das Geisterhaus stehen keine der Lautsprecher, aber wenn die Schreie der Fliehenden kurz verstummen, wenn ich das Echo von Herzschlag und Stoßatmung im Innern des Kostüms für einen Moment ausblenden kann, dann höre ich unsere Hymne. Was übertönt wird, könnte ich im Schlaf ergänzen.

      Der Rabe fliegt, die Sonne lacht!

      Ein Ort, der alle fröhlich macht!

      Stets Spiel und Spaß und niemals Nacht

      Im Königreich Corona!

      Ein Rattern hinter mir verrät, dass sich wieder einer der Lunaphobia-Züge der Villa nähert. Das Schluchzen der darauf Gefangenen kommt näher, dann folgt ein Krachen, als die Trümmer auf den Schienen gerammt und weggeschleudert werden. Der Zug rast abwärts, und Sekunden später sehe ich ihn aus der Öffnung unten am Hügel rauschen. Ich sehe Flammen aus den Fenstern im Erdgeschoss züngeln. Ich sehe die falschen Grabsteine auf dem falschen Friedhof, und zum ersten Mal, seitdem die Zerstörung begonnen hat, kommt mir der Gedanke, dass ich hier vielleicht gar nicht lebend rauskomme. Vielleicht bin ich beim Versuch, Donnie zu finden, in mein eigenes Verderben gelaufen. Wenn irgendjemand überlebt, kann er schon morgen auch meinen Namen in einen der Plastiksteine vor dem Geisterhaus meißeln.

      Hier ruht Jessica Fawkes – Tochter, Freundin, Prinzessin von Corona.

      Der zerfallende Vergnügungspark vor mir, er hätte mein Königreich sein können. Ich hätte alles besser machen können. Stattdessen hinterlasse ich der Welt nur brennende Ruinen unter heranziehenden Gewitterwolken. Ich war dabei, als der Park gebaut wurde, und jetzt wird das Letzte, was ich in meinem Leben sehen werde, sein Ende sein. Das Letzte, was ich hören werde, unablässig singend aus den fernen Lautsprechern, ist Sonja.

      Explosionen, Schreie, das Rattern von Achterbahnen und die Stimme der einen Frau, die all das erträglich gemacht hat. Dies ist mein Abschiedslied.

      Blitz und Donner. Pauken und Trompeten.

      Und eine kleine Geige.

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