Europarecht. Bernhard Kempen

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Europarecht - Bernhard  Kempen Grundbegriffe des Rechts

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liegt weiterhin in der Hand der Mitgliedstaaten.

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      Nach Art. 42 Abs. 4 EUV sind Beschlüsse zur GSVP einstimmig vom Rat auf Vorschlag des → Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik oder Initiative eines Mitgliedstaates zu erlassen; ein formelles Beschlussverfahren für die Feststellung des Beistandsfalles ist anders als in der NATO vom EU-Vertrag nicht vorgesehen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass ein Beschluss i.S.d. Art. 42 Abs. 4 EUV im Fall der Anschläge von Paris nicht getroffen wurde; die Verteidigungsminister haben das Ersuchen Frankreichs am 17.11.2015 lediglich akzeptiert und Beistandsleistungen versprochen. Diese müssen nicht ausschließlich in der Gestellung von Militärverbänden bestehen; es ist auch möglich, die Verteidigungsbemühungen eines Staates durch entlastende Maßnahmen an anderer Stelle zu unterstützen. Deutschland beteiligt sich u.a. mit Aufklärungsflugzeugen, einem Tankflugzeug und einer Fregatte als Begleitschutz für einen französischen Flugzeugträger im Mittelmeer und angrenzenden Seegebieten direkt an der Bekämpfung des IS in Syrien. Daneben unterstützt Deutschland Frankeich indirekt durch Übernahme einer stärkeren Verantwortung in Mali, durch Ausbildung kurdischer Kämpfer im Nordirak sowie irakischer Soldaten (zuletzt: BT-Drs. 19/25 vom 25.10.2017; BT-Drs. 19/1093 vom 7.3.2018) und Bereitstellung medizinischer Soforthilfe bei eventuellen weiteren Großschadensereignissen in Frankreich (BT-Drs. 18/6866 vom 1.12.2015, S. 8 f.). Ferner unterstützt Deutschland die Bemühungen einer internationalen Staatenkoalition zur Bekämpfung des IS durch Bereitstellung von Besatzungen für NATO-AWACS-Luftraumüberwachungsflugzeuge (BT-Drs. 18/9960 vom 13.10.2016, S. 2, 7, 10; BT-Drs. 19/1093 vom 7.3.2018).

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      Auslöser der Beistandsverpflichtung des Art. 42 Abs. 7 EUV ist ein „bewaffneter Angriff“. Herkömmlich wird ein bewaffneter Angriff eines Staates mit seinen zur Durchführung von Kampfhandlungen autorisierten Organen als Auslöser des in Art. 51 UN-Charta anerkannten naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung angesehen. Im Weltbild der Autoren der UN-Charta im Jahre 1945 war dies ein Angriff von außerhalb des Zielstaates. Da die Terrorattacken in Paris von Privatpersonen begangen wurden und sich die Terrororganisation IS dazu als Urheber bekannt hat, stellen sich mehrere Fragen: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um einen privaten Angriff einem staatlichen bewaffneten, die Beistandsverpflichtung auslösenden Angriff gleichzusetzen? Kann ein derartiger Angriff auch vom Territorium des Zielstaates aus geschehen? Nach welchen Kriterien dürfen solche Akte einem bestimmten Staat als Urheber zugerechnet werden? Diese Fragen sind zentral, um im bisher einzigen konkreten Anwendungsfall der Anschläge von Paris zu einem tragfähigen Ergebnis zu gelangen.

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      Ob Angriffe Privater das staatliche Selbstverteidigungsrecht auszulösen vermögen, ist umstritten. Diskutiert wurde diese Frage seit den Terroranschlägen in den USA am 11.9.2001, bei denen etwa 3000 Personen getötet wurden. Der UN-Sicherheitsrat verwies in den Präambelpassagen der Resolutionen S/RES/1368 (2001) vom 12.9.2001 und S/RES/1373 (2001) vom 28.9.2001 auf das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, ohne jedoch eine bestimmte Operation der Mitgliedstaaten zu autorisieren. Andererseits ist die Reaktion der US-geführten Koalition i.R.d. Operation Enduring Freedom vom Sicherheitsrat auch nie verurteilt worden. Der Sicherheitsrat bekräftigte, dass in jeder Handlung dieser Art eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit liege und wiederholte dies und seine Verurteilung aller Terroranschläge seitdem vielfach. Gleichzeitig verlieh er seiner Entschlossenheit Ausdruck, solche Handlungen künftig zu verhüten und betonte die Notwendigkeit, solche Bedrohungen mit allen Mitteln im Einklang mit der UN-Charta zu bekämpfen.

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      Daraus lässt sich schließen, dass der Sicherheitsrat, der über die Argumente der USA zur Urheberschaft der Anschläge ebenso informiert wurde wie über die Reaktionen darauf, jedenfalls die Anschläge in den USA als so schwerwiegend betrachtet, dass sie zur Auslösung des Selbstverteidigungsrechts in der Lage waren. Damit wird deutlich, dass Anschläge Privater einem bewaffneten Angriff eines Staates nur dann gleichkommen können, wenn sie von der Intensität und Erheblichkeit eines staatlichen Angriffs sind. Dies muss für die Anschläge von Paris bezweifelt werden.

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      Resolution 2249 (2015) vom 20.11.2015 wiederholt die genannte rechtliche Einschätzung und enthält im operativen Teil u.a. folgende Passage: „Der Sicherheitsrat […] fordert die Mitgliedstaaten, die dazu in der Lage sind, auf, unter Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen sowie der internationalen Menschenrechtsnormen, des Flüchtlingsvölkerrechts und des humanitären Völkerrechts, in dem unter der Kontrolle des ISIL, auch bekannt als Daesh, stehenden Gebiet in Syrien und Irak alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und ihre Anstrengungen zu verstärken und zu koordinieren, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden, die insbesondere vom ISIL, auch bekannt als Daesh, sowie von der Al-Nusra-Front und allen anderen mit Al-Qaida verbundenen Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen und anderen terroristischen Gruppen begangen werden, […]“ (S/RES/2249, op-5).

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      Der Sicherheitsrat hat in zahlreichen Resolutionen zu Terrorangriffen in allen Teilen der Welt immer wieder mit vergleichbarem Wortlaut Stellung genommen. In Resolution 2249 bezieht er sich in erster Linie auf die Lage im Irak und Syrien, auf deren Territorien bewaffnete Kampfhandlungen stattfinden; er autorisiert aber keine besondere oder neue Operation wegen der Anschläge in Paris, sondern das Vorgehen der Mitgliedstaaten gegen die genannten Terrororganisationen im Einklang mit dem ohnehin geltenden Völkerrecht. Unklar bleibt dabei allerdings weiterhin, welche Größenordnung ein Terrorangriff Privater haben muss, um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen, wie der Zurechnungszusammenhang mit einem Staat als Verursacher zu bewerten ist und ob auch ein Angriff, der im Zielstaat geplant und durchgeführt wird, das staatliche Selbstverteidigungsrecht auslösen kann.

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      Es wird vertreten, dass es für das Auslösen der Beistandsverpflichtung des EU-Vertrags keinen Unterschied ausmache, ob ein Angriff von außen komme und mithin grenzüberschreitend sei oder vom Territorium des Zielstaates ausgehe, solange er nur einem Staat zugerechnet werden könne. Die zuvor dargelegten Bündnisklauseln beziehen sich alle auf das in Art. 51 UN-Charta anerkannte naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, das „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen“ durch die Charta nicht beeinträchtigt wird. Dieses Recht ist in den zwischenstaatlichen Beziehungen nur im Fall eines Angriffs von außen gegeben, wie auch die Aggressionsdefinition der Generalversammlung der UN (GA/RES/3314) vom 14.12.1974 zeigt. Diese rechtliche Einschätzung verdichtet sich gerade vor dem Hintergrund der rechtlich unverbindlichen Entschließung der UN-Generalversammlung mit der Einführung des gleichlautenden Aggressionsverbrechens im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und im deutschen Völkerstrafgesetzbuch zu einer rechtlich verbindlichen Norm des Strafrechts auf der Ebene des Völkerrechts und des nationalen Rechts.

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      Alle Bündnisklauseln benutzen den Wortlaut „bewaffneter Angriff“, die EU-Beistandsklausel formuliert „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates“; dabei wird ein bewaffneter Angriff gegen einen Mitgliedstaat oder „auf das Hoheitsgebiet“ durch einen anderen Staat von außen kommen. Ein

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