Europarecht. Bernhard Kempen

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Europarecht - Bernhard  Kempen Grundbegriffe des Rechts

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politischer Äußerungen schon deshalb nicht vor, weil er von französischem Territorium ausging und nicht von außen kam.

      370

      Die Diskussion um die Erforderlichkeit der Zurechnung terroristischer Aktivitäten zu einem Staat, der dann selbst als Angreifer betrachtet würde, der das staatliche Selbstverteidigungsrecht des von Terroristen angegriffenen Staates auslöst, ist seit den Anschlägen in den USA kontrovers geblieben. Nach Art. 3g der Aggressionsdefinition, kommt nur das „Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat ausführen, die auf Grund ihrer Schwere den oben aufgeführten Handlungen gleichkommen, oder die wesentliche Beteiligung daran“ einem staatlichen bewaffneten Angriff gleich. Hat der Staat danach die lenkende und operative Tatherrschaft, kann der Terrorangriff ihm zugerechnet werden.

      371

      Eine Auffassung im Völkerrecht tritt dafür ein, die Handlungen von Terroristen einem Staat bereits dann zuzurechnen, wenn dieser ihnen einen sicheren Hafen gewähre und ihnen sein Staatsgebiet als Aufenthaltsort und sicheres Rückzugsgebiet willentlich zur Verfügung stelle. Diese Zurechnungskriterien, falls sie überhaupt Anerkennung finden sollten, sind im Fall der Anschläge von Paris nicht erfüllt, weil der IS im Irak und Syrien von den Regierungen bekämpft wird. Erst wenn man sich überhaupt von der Zurechnungsobligation lösen und das Selbstverteidigungsrecht unabhängig von der Zurechnung des Terrorangriffs zu einem Staat anerkennen würde, wäre es auch möglich, die Anschläge von Paris als wirksamen Auslöser des staatlichen Selbstverteidigungsrechts anzusehen.

      372

      Die Anschläge von Paris sind i.E. als solche kein „bewaffneter Angriff“, der das staatliche Selbstverteidigungsrecht auslöste. Sie wurden nicht von außen gegen Frankreich geführt und entstanden nicht i.S.d. Art. 3g der Aggressionsdefinition durch das staatliche „Entsenden“ bewaffneter Banden, da der „Islamische Staat“ lediglich eine Terrororganisation ist, die auf dem Staatsgebiet von Irak und Syrien durch die dortigen Regierungen bekämpft wird und den Anspruch, selbst ein Staat zu sein, bisher nicht erfüllen kann. Eine Zurechnung der Anschläge zu einem Staat i.S.d. sich im Völkerstrafrecht verdichtenden Regeln der Aggressionsdefinition ist objektiv nicht möglich, und ob auf eine solche verzichtet werden kann, ist völkerrechtlich nicht abschließend geklärt. Ebenso ist unklar, ob Intensität und Erheblichkeit dieses unzweifelhaft schweren Verbrechens bereits solche Ausmaße angenommen haben, dass sie einem staatlichen bewaffneten Angriff trotz aller anderen Umstände gleichgesetzt werden könnten.

      373

      Die Aktivierung der EU-Beistandsklausel durch die Anfrage Frankreichs hat zu einer Zusammenarbeit zwischen Staaten einer Koalition gegen den IS geführt, der mehr als 60 Staaten angehören, die sich aber nicht i.R.e. GASP-Entscheidung der EU oder einem anderen institutionellen Rahmen vollziehen.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › IV. Solidaritätsklausel, Art. 222 AEUV

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      Die Union mobilisiert nach Art. 222 Abs. 1 S. 2 Buchst. b) AEUV alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden, die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen oder im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen. Hierzu sind Absprachen der Mitgliedstaaten im Rat und ein Beschluss des Rates vorgesehen (Art. 222 Abs. 2 S. 2 AEUV). Diese Solidaritätsklausel wendet sich nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an die EU selbst und findet bei Terroranschlägen innerhalb der EU Anwendung. Sie bietet allerdings keine Rechtsgrundlage für eine Intervention in Drittstaaten. Soweit militärische Beistandsleistungen erbeten werden, wird die Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV als lex specialis angesehen.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › V. EU als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit

      375

      Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon und seinen Begleitgesetzen (BVerfGE 123, 267) ausgeführt, der Ratifikationsvorbehalt des Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 EUV verdeutliche, dass der Schritt der Europäischen Union zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit durch die geltende Fassung des → Primärrechts und durch die Rechtslage nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch nicht gegangen werde (BVerfGE 123, 267 [425]).

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      Teilweise wird hieraus geschlossen, dass das Gericht die EU nicht als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit i.S.v. Art. 24 Abs. 2 GG anerkenne. Inhaltlich geht es allerdings bei dieser Passage des Judikats um die Frage, ob die EU ohne Einhaltung der nationalen Vorgaben die Mitgliedstaaten i.R.e. noch zu beschließenden gemeinsamen Verteidigungspolitik zu einem Militäreinsatz verpflichten, also nationales Recht überlagern könne. Das BVerfG hat in seinem Grundsatzurteil zu Streitkräfteeinsätzen vom 12.7.1994 (BVerfGE 90, 286 [349]) lediglich gefordert, dass ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit über ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation verfüge, der für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründe, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichte und Sicherheit gewähre. Für die UN (BVerfGE 90, 286 [349]) und die NATO (BVerfGE 90, 286 [351]) hat das Gericht die Merkmale eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit ausdrücklich anerkannt. Ob diese Voraussetzungen im Falle der EU-Verteidigungspolitik vorliegen, wird im Urteil zum Vertrag von Lissabon nicht geprüft.

      377

      

      Da die EU mit dem EU-Vertrag über ein friedensicherndes Regelwerk jedenfalls insofern verfügt, als sie ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschreibt, und zudem mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee, dem Militärausschuss der EU und dem Militärstab der EU auch über entsprechende Organisationsstrukturen verfügt (→ Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik [GSVP]), erfüllt sie die Kriterien des Grundsatzurteils, ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu sein. Die zitierte Passage des Lissabon-Judikats kann mithin als obiter dictum angesehen werden; sie ist nicht Bestandteil der nach Art. 31 Abs. 1 BVerfGG in Gesetzeskraft erwachsenen Entscheidungsformel (vgl. BGBl. 2009 I, S. 2127); die staatliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland behandelt die EU bei Militäreinsätzen jedenfalls als ein solches System i.S.d. Art. 24 Abs. 2 GG.

      BBeistandsfall (Peter Dreist) › VI. Einsatzregeln

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