Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg

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Claras Geschichte - Nieke V. Grafenberg

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zwar, aber so sind es nur ein paar Schritte über die Straße, bis er an der Haustür ist. Und gelegentlich bringt er ein Brot mit heim. Brot, für das er nicht eine Lebensmittelmarke über den Ladentisch schieben musste. Duftendes Brot mit glänzender Kruste - wie unter Zwang reißt Claras Mutter das warme Ränftel an, sie kann sich unmöglich beherrschen, besonders wenn es von Sauerteig ist. Der Großvater hat das Rezept verraten, weil es in Schüttorf doch so viele Flüchtlinge gibt.

      Jahre später im Vierfamilienhaus, ein Bild formt sich in Clara. Vom Wohnzimmerfenster beobachtet sie, wie Mutter ihr Fahrrad in seinen Ständer unter dem Fliederbaum schiebt. Auf dem Heimweg von Liese, dem Bäcker, bei dem sie anschreiben darf, hat sie hinter den Sattel gelangt und Brocken knuspriger Brotrinde abgerissen. Der Laib weist, als sie die Küche betritt, einen unübersehbaren, wenn auch recht flachen Krater auf. Bis Claras Mutter die Kruste im Alter nicht mehr zerbeißen kann: Vor ihren Gelüsten auf backofenwarmes, am liebsten gesäuertes Brot, muss nicht nur sie selbst, nein, muss auch der Rest der Familie kapitulieren.

      Seit der Großvater wieder Brot bäckt, hat Clara für sich den Heimweg geändert. Für gewöhnlich nimmt sie den Weg die Vechte entlang, kreuzt die hölzerne Brücke beim Wehr und biegt in die Mühlengasse, die auf ihre Steinstraße stößt. Doch bevor sie die überquert, um ins Haus, wo sie neuerdings wohnt, zu gelangen, tut sie einen Schlenker nach rechts und hüpft einmal durch Schevels Backstube, um auszukundschaften, ob Großvater abermals Teig kneten muss.

      An dem Tag jedoch ist der Großvater nirgends zu finden. Nur Gesellen und Lehrlinge, die Clara kaum kennt. Und ein heiterer Fremder, der zu Besuch aus Amerika ist. Er hebt Clara auf seine Hand und schwenkt sie zur Decke, während der Rest der Anwesenden zusieht und gutmütig lacht. Und wie der Ami sie auf und nieder schwingt, mit seinem freundlichen Jungengesicht, kann er es nicht lassen, ihr bei jedem Heben und Senken mit dem Mittelfinger den Zwickel des Schlüpfers auszustreichen, unter dem Kleid, wo keiner es sieht, wieder und wieder. Clara weiß nichts, doch sie spürt instinktiv, das darf er nicht tun - dass das, was er da mit ihr anstellt, auf keinen Fall richtig ist.

      Als Clara wieder festen Boden unter den Füßen hat, rennt sie heim in die Küche und trinkt Wasser vom Hahn, bis die Mutter sie packt und wegzieht. Sagt nichts von dem, was sie nicht begreift und von dem sie doch weiß, dass es falsch ist. Steigt am folgenden Tag mit zwei Kindern, die sie nicht kennt, in seinen Amischlitten ein und lässt sich durch Schüttorf kutschieren. Lachend und winkend, bei offenem Verdeck. Als sei sie und nicht er der Sieger.

      DREI

      Hans putzte seine Schuh, Hans putzte seine Schuh ...

      An den Text, an die Melodie des Liedes, das Clara artig vorträgt, hat sie, wenn überhaupt, eine vage Erinnerung. Sie singt den Refrain auf den Knien eines beinahe erwachsenen Mädchens, das wie Clara für ein paar Wochen an die Nordseeküste verbannt ist. Endlose Tage im Schutz der Dünen, bis über die Augen in Decken gehüllt des pfeifenden Windes wegen. Verschickt ist das hässliche Wort. Mit Gewissheit ist Mutter Schuld, denn war es nicht sie, die dem Doktor verriet, dass Clara von morgens bis abends auf Achse und deshalb so mager ist? Und dass sie ständig am Wasserhahn hängt?

      Der Schüttorfer Doktor scheint sich mit Quecksilberkindern nicht so gut auszukennen. Mit Tieren wohl auch nicht, er beugt sich zu Clara herunter und spricht mit erhobenem Finger salbungsvoll: Dass Enten allein so verschwenderisch Wasser saufen. Und dass sie doch keine Ente ist.

      So kommt es, dass die magere Kleine im Aufenthaltsraum des Erholungsheims imaginäre Schuhe auf Hochglanz bringt. Hans putzte seine Schuh ... Clara singt und mimt, weil die größeren Mädchen Quälgeister sind - wenn sie nachgibt, hat sie am ehesten Ruhe. Sie ist sich bewusst, sie bringt sie zum Lachen, weil sie die Jüngste und Putzigste ist. Und damit sie nachgibt und singt, verspricht man ihr später fürs Bett noch ein Märchen.

      Irgendwann findet sich Clara im Schlafsaal wieder. Der Atem hitzig und faul, jedes Schlucken ein Stich in den Schlund. Ihr Lager wird neben dem Lichtspalt zum Zimmer der Aufseherin aufgeschlagen. Die kommt in der Nacht, legt ihr oben die kühlende Hand auf die Stirn und führt unten das Fieberthermometer ein. Die Tage und Nächte ein reichlich verwackeltes Bild, erst als die Kur an der Nordsee zuende und Clara zum Umpusten schwach ist, wird sie nach Hause entlassen.

      Das ungläubige Gesicht ihrer Mutter, als Clara mit einem Namensschild um den Hals aus dem Zug gehoben wird. Und auch wenn er nichts dafür kann, Mutter nimmt sie bei der Hand und geht den Doktor beschimpfen:

      „Jesus Maria - Erholung? Was haben die an der Nordsee bloß mit dem Kind angestellt!“

      Auch wenn nicht belegt ist, woher Claras Krankheiten stammen - Mutter verwünscht die Verschickung, sie bildet sich ein, dass Clara sich dort im Heim ihre Mundfäule eingehandelt hat. Sie fiebert und stinkt aus dem Mund, und um den Belag zu entfernen, muss Mutter mehrmals am Tag Claras Mundhöhle mit einem scheußlichen Saft auspinseln. Und die eigene gleich mit, auch wenn es brennt, der Arzt hat zur Vorsicht geraten.

      Und immerzu vor dem Schlafengehen quälen Clara die Würmer. Und Clara quält Mutter: „Die Wörmer, es beißt!“

      Abend für Abend klaubt Mutter die drängelnden Schmarotzer vom zwickenden Darmausgang, während Clara am Fußende des Bettes ihr Erleichterung suchend den Hintern entgegen reckt. Nicht lange, und eine Schar talgiger Wurmleichen klebt vom Fingernagel zermalmt am Bettpfosten. Und morgens, wenn Clara die Augen aufmacht, ist die Stelle am Pfosten geräumt für den kommenden Abend.

      Ist das Kindererholungsheim wirklich Schuld an Claras Gebrechen? Oder war es das Fleisch, das die Großmutter anfangs nur unwillig zubereitet, weil es vom Pferdeschlachter kommt? Von dem sie aber zugeben muss, dass es so furchtbar gar nicht schmeckt? Oder – an sich unvorstellbar - hat etwa Großmutters Kochkunst versagt?

      Später als Schulkind, als Clara die Masern durchleidet, muss sie lange Tage das Großelternbett in der Küche hüten. Mit Sonnenbrille - zum Schutz ihrer Sehkraft hat Mutter eine aufgetrieben. Die Brille quält Clara, sie sitzt nicht und drückt auf den Ansatz der Ohren. Sie zwickt auf der Nase, bis Mutter die scharfen Kanten der Stege umwickelt hat. Womit? Wie soll Clara das wissen? Sie sieht, wie sie nach einem Bad viel zu fest in ein Badetuch eingeschlagen wird, das reicht bis zum Kinn und weiter. Sie schwitzt und leidet und jammert und klagt. Will nichts wie weg, bleibt aber vom Tuch gebändigt am selben Fleck. Denn Mutter und Großmutter sind sich wieder mal einig:

      „Schwitzen ist heilsam, bleib zugedeckt, Kind! Oder willst du, dass wir noch einmal von vorn anfangen müssen?“

      Nach so einer Schwitzkur - Clara ist schlapp und nicht in der Lage, sich zu entziehen - wälzt Mutter sie auf die Seite. Um abzulenken von dem, was sie vor hat, plappert sie Nichtigkeiten und zieht mit der linken Hand Claras Nachthemd zurecht, während - auf hinterhältigste Art und Weise – die rechte dem Kind ein Stück glitschiger Kernseife hinter den Schließmuskel drückt und die Pobacken zuhält, damit das Abführmittel nicht unversehens zurückflutschen kann.

      Das unappetitliche Wuseln von handspannenlangen, geriffelten Würmern im beinahe flüssigen Stuhlgang - Clara sieht zu, wie Mutter der Großmutter kurz den Nachttopf unter die Nase hält und anschließend ganz schnell wegschafft. Würmer dick wie der Bleistift in Claras Griffelkasten - im Kindheitstraum allemal. In Wirklichkeit vielleicht kürzer und ausgehungerter, auch wenn das für Clara nun keine Rolle mehr spielt.

      Heute weiß Clara natürlich, wie Würmer im Magen- und Darmtrakt zustande kommen, sie weiß um verdorbene oder verunreinigte Kost. Im Kindheitstraum aber erfährt sie von alldem nichts, im Kindheitstraum herrscht einzig das wiederbelebte Bild. Vielleicht noch die Atmosphäre, Clara fragt sich, ob es möglich ist, dass Seele und Verstand nicht die gleiche Erinnerung haben? Denn sie spürt, was sie sieht - so drastisch, als sei es erst gestern gewesen, so gewaltig, dass ihr bisweilen

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