Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg

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Claras Geschichte - Nieke V. Grafenberg

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Hand. Wie also soll Clara sich ausmalen können, was die von Mutter heraufbeschworene Hure außer tanzen noch treibt? Eine Hure ist eine verdammt schlechte Frau, soviel reimt sich Clara zusammen. Aber was sie darüber hinaus mit Sicherheit weiß: Sie hat allen Grund, beleidigt zu sein, denn was immer die Mutter sich ausmalt, sie hat nur getanzt. Der Abend mit Freunden im Gasthaus ist absolut harmlos gewesen.

      Über die geschlechtliche Liebe kann Clara in ihrer Familie so gut wie nichts lernen - das Plätzchen für Sexualität in ihren verschachtelten Kammern ist immerhin eingerichtet, bleibt aber lange verwaist. Nicht einmal versehentlich sieht sie die Großeltern sich berühren, und dass Mutter sie jemals innig umarmt hat, daran glaubt Clara nicht. Und ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemüht, ihre Augen offen zu halten, die Onkel herzen die Liebsten vor anderen nicht.

      Und Mutter? Auch später, als Clara erwachsen und, wie sie meint, in der Liebe erfahren ist, gelingt es ihr nicht, sich die eigene Mutter beim Akt vorzustellen. Hin und wieder wird sie sich fragen, wie ihre Mutter überhaupt zu einem Kind gekommen ist, zweifellos hat sie zu dem Zweck die körperliche Liebe nur erduldet. Nummer drei Strich siebenundsechzig im Pensionat, Zucht und Ordnung bei keuschen Nonnen - mit Sicherheit kennt Onkel Hans die Geschichte, die Claras Mutter erzählt, als Mutter und Kind sich einmal sehr nah sind. Bestimmt zieht der Bruder die Schwester auch deswegen auf:

      Während draufgängerische Freundinnen nachts tuschelnd und kichernd vom Fensterbrett des gemeinsamen Schlafsaals in die Grünanlagen hopsten, zum Rendezvous mit dem Bösen, hat ihnen Nummer drei Strich siebenundsechzig mit aufgerissenen Haselnussaugen hinterher geschaut. Aus Angst vor der zu erwartenden schrecklichen Strafe, und weil das junge Mariechen nach eigener Aussage weder jemals beherzt noch neugierig war.

      Ob Mutters Selbsteinschätzung zutreffend war? Clara zögert, sie muss überlegen. War Mutter ihr wenig beherzt oder gar ängstlich vorgekommen? Nun ja, sie weiß nicht so recht: Immer bei Donner und Blitz stand die Mutter zur Flucht bereit. Während Clara und Großmutter seelenruhig vom Fenster aus dem Gewitter zusahen, raffte Mutter in kürzester Zeit alle wichtigen Unterlagen zusammen. Eine brüchige Reißverschlussmappe mit Heiratsurkunden, Rentenbescheiden und Flüchtlingsausweisen unter den Arm geklemmt, stand sie im Flur auf dem Sprung, bis das Unwetter aus und vorbei war.

      Ja, und vor Ämtern hatte sie Angst, erinnert sich Clara. Jeder Gang zum Kreisamt nach Nordhorn, jeder zu stellende Antrag war für Mutter ein Kampf mit sich selbst gewesen. Fuhr sie nun hin oder ließ sie es bleiben? Nicht nachvollziehbare Rentenbescheide, Beihilfen, die sie so dringend benötigten ... Mutter fürchtete noch den kleinsten Beamten. Denn der - das hatte sie die Erfahrung gelehrt - würde erst einmal unfreundlich feststellen, dass ihr Anspruch, auch wenn er rechtmäßig war, zumindest vorerst nicht gelten konnte. Dass erst ein Papier aus dem Polnischen übersetzt, anschließend beglaubigt und später der Antrag noch einmal gestellt werden musste. Und dass Mutter - was sie schon im Vorfeld nicht schlafen ließ - wenn alles komplett und erledigt war, aufs Neue antanzen durfte.

      Aber dreizehn Gepäckstücke und ein Kind! Wenn Claras Mutter von jeher ein Hasenfuß war, wie hat sie die Flucht in den Westen geschafft? Wie hat sie es fertig gebracht, aus der Westzone noch einmal schwarz über die Grenze zu machen, wie Großmutter immer betonte? Zurück nach Dresden, wo die Russen längst saßen, um das beim Aufbruch vergessene Stammbuch und andere für den Rentenanspruch unverzichtbare Papiere zu retten?

      Mit dreizehn Gepäckstücken auf der Flucht - für Clara unvorstellbar. Hat Mutter den Sportwagen mitgezählt, in dem Clara auf einem Federbett saß? War sie wirklich die vierzehnte Bürde?

      „Macht, dass ihr fortkommt“, soll Claras Großvater angeordnet haben. Januar fünfundvierzig, der Monat neigt sich, als Mutter in klirrender Kälte mit Heerscharen anderer zum Flüchtling wird. An den Fluchtweg hat Clara keine Erinnerung, von überquellenden Zügen, von endlosen Fußmärschen ist die Rede. Aber sie sieht sich im Gitterbett stehen - Tante Toni, die Großvaters Schwester und Mutters Patentante ist, nimmt sie in Radebeul auf, sie bleiben bis Mai. Mutters Kusine Anni ist mit ihrem Winfried schon vor ihnen da. Sie hat, hört Clara die Großmutter sprechen, ein paar Tage früher von zu Hause fortgemacht. Wenig später stößt Gitta, die blutjunge Frau von Mutters gefallenem Bruder Josel mit ihren zwei Jungen dazu. Josel von Josef, Horstl von Horst, sein jüngerer Bruder hat Augen wie Sterne und wird, obwohl Lothar getauft, aus unerfindlichen Gründen Seppel genannt. Der Seppel ist dermaßen niedlich, dass Tante Gitta sich manchmal vergisst, sie muss ihn beim Wickeln vor lauter Liebe in beide Pobacken beißen. Doch sie schnappt so fest zu wie ihre Begeisterung groß ist – bis der Kleine ganz bitterlich weint. Die Augen von Claras Mutter glänzen verdächtigt, sie hat es mit ansehen müssen und mit dem Kleinen Mitleid gehabt. Weswegen, glaubt Clara, die Mutter so oft davon spricht wie von ihrem und Großvaters Holzklau im Bentheimer Wald.

      Als Gitta in Radebeul eintrifft, ist sie immer noch außer sich, um ein Haar hätte sie ihren Jüngsten verloren. Auf dem Bahnsteig wird Milch für die Kleinsten verteilt, und um etwas davon zu ergattern, ist sie mit Horstl an der Hand aus dem brechend vollen Waggon geklettert. Den Seppel lässt sie derweil in der Obhut der anderen im Abteil zurück. Als der Zug ohne Vorwarnung anfährt und sie sich schreiend an seine Verfolgung macht, lässt einer der Mitflüchtlinge das Fenster herunter und wirft ihr das Bündel von Kind direkt in die Arme.

      Ja, Glück gehabt Seppel, die Sippe rückt noch einmal enger zusammen - und wie es aussieht, vertragen sie sich.

      Für Clara bleibt vieles lange verschwommen, vor allem die Begriffe Vergewaltigung und Christbaum, der, als sie in Radebeul Zuflucht suchen, keineswegs der Weihnachtsbaum für das friedliche Fest ist. Als Lichterformation fällt so ein Christbaum vom Himmel, erhellt für die Bomber die Ziele. Tante Tonis Mann gibt nicht nach, er treibt Claras Mutter aufs Dach, damit sie sich das Feuerwerk aller Feuerwerke ansieht und die Nacht, in der Dresden in Schutt und Asche gelegt wird und Abertausende den Feuersturm nicht überleben, ihr Leben lang nicht vergisst.

      Und immer, wenn nach dem Einmarsch Russen sich blicken lassen, treibt er Frauen und Kinder ins Kellerversteck. Er schärft ihnen ein, in Bedrängnis nur polnisch oder die paar Brocken russisch zu reden, damit die Soldaten denken, dass sie Polen oder Ukrainer und keinesfalls deutsches Freiwild sind.

      Trümmer sind immer noch reichlich vorhanden, als Clara - sie muss um die zwölf sein - mit Mutter und Großeltern in die Ostzone darf. Tante Tonis Mann ist gestorben, sie wohnt jedoch noch am selben Fleck. Mit anderen in der ehemals hübschen Villa, wohin Mutter mit Großmutters Unterstützung seit Jahren halbpfundweise Kaffeebohnen und Kilos von Grundnahrungsmitteln schickt. Dazu Medikamente, die dort nicht aufzutreiben sind. Und in der Vorweihnachtszeit die unerlässliche Butter, das Mehl und das Backpulver, das Zitronat, die Mandeln und andere dringend erforderliche Gewürze. Riesenpakete jedes Mal - teure Pakete, beim Einpacken seufzt Claras Mutter. Doch trotz Mutters Seufzern, die heilige Anna legt für die Schwestern Immel, die treue Freundinnen Tante Tonis sind, ein Extrapaket Kaffee und ein Stück Butter mit in den Pappkarton.

      Tante Toni und ihre berühmten Dresdner Stollen - auch wenn Clara das Orangeat und das Zitronat in der Kindheit verabscheut, Mutter behauptet, kein anderer bäckt Stollen so köstlich wie sie. Mindestens einer und ein Exemplar mit Rosinen und Mohn stehen pünktlich zum Fest auf dem Kaffeetisch. Dazu eine Holzpyramide mit Schafen und Hirten und mit einem Jesuskind - das strahlt und streckt Clara die Arme entgegen. Drei Stockwerke hoch ist das Kunstwerk aus Tante Tonis Erzgebirge. Drei Könige tragen Geschenke. Sie führen Kamele am Strick und drehen Runde um Runde inmitten von Kerzen, die heißer brennen als der heißeste Wüstenwind - kommen aber nie an.

      „In der Ostzone nicht allzu teuer – und leichter zu kriegen als Butter und Obst.“ Dies Mutters Erklärung, als Clara sich wundert, dass Tante Toni so teuere Geschenke macht. „Geld ist genug da, denn irgendwann fing sie an zu verkaufen. Zuerst den Biedermeiersalon. Später das Silber, Besteck für Besteck.“

      Im Garten der Villa zieht Tante Toni Gemüse und Obst. Hält

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