Claras Geschichte. Nieke V. Grafenberg

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Claras Geschichte - Nieke V. Grafenberg

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Clara knickst, überreicht voller Stolz ihre Tüte. Und stellt fest, dass niemand hier blaulila Pflaumen mag - keiner würdigt sie eines Blickes.

      War Clara ein einsames Kind? Wenn nicht mit Gesa, mit welchen Kindern hat sie am Fluss und beim Wehr gespielt? Außer an Horstl, der ihr Kusin aus Lübeck ist, kann Clara sich nur an Doris erinnern. Aber da ist sie bald sechs und sie haben den Schulweg gemeinsam. Clara mit Affenschaukeln und skeptischer Miene - auf dem Erstklassfoto sitzt eine lächelnde Doris an ihrer Seite und hält wie sie die Hände artig im Schoß verschränkt. Von den achtunddreißig Jungen und Mädchen mag Clara die Doris am liebsten. Sie mag auch die Mutter von Doris. Und Claras Mutter bedauert nach einem Besuch, dass sie so weit auseinander wohnen.

      Aber haben Doris und Clara je nach Schulschluss zusammen gespielt? Haben sie Schmetterlinge gejagt und Steine in den Fluss geworfen, wie Clara es immer mit Horstl tut? Sind sie gemeinsam auf Heuhaufen geklettert und bei Glatteis über tosende Wehrgräben gesprungen, was äußerst gefährlich war? Clara weiß nur, dass der Horstl am Kopf operiert ist und lange in Hamburg im Krankenhaus lag. Und dass er aus dem Grund nicht ganz so schnell rennt. Doch er spielt ihre wilden Spiele, sie sind fast gleich alt. Von dem Tag, an dem er das erste von mehreren Malen nach Schüttorf kommt, hat Clara ihn in ihrem Schlepptau als sei er ihr Schatten oder ihr zweites Ich.

      Wenn Horstl zu der Zeit nicht anwesend war und Clara noch nicht in der Schule, wer war es, der sie am Schürzenbändel aus der Vechte zieht und vor dem Ertrinken rettet? Ein Mädchen wie sie, das steht fest. Es steht auf den Sandsteinstufen, die unter der uralten Weide zum Flussbett hinunter führen. Die letzte Stufe aalglatt, hier ist Clara ins Rutschen gekommen. Sie sieht einen Schuh auf dem Wasser schwimmen und greift nach der helfenden Kinderhand. Wie ein mit Nadeln fixiertes Insekt hat sie flach auf dem Wasser gelegen, ist tropfnass über den Mühlplatz zum Haus und den zugigen Hausflur entlang die Treppe hinauf in Großmutters Küche gerannt und ... nu nu, Kind, komm her!

      Als sei alles erst gestern gewesen: Die Großmutter packt sie ins Badetuch ein und steckt sie ins Großelternbett. Stopft die Zudecke fest und bewacht Claras Schlaf, bis endlich die Mutter von da, wo sie hin ist, zurückgekehrt ist.

      Jetzt könnte man meinen, dass das, wovon ich als nächstes berichte, die logische Folge des Flussunfalls ist. Doch Clara weiß wenig von Logik - es wundert sie nicht, dass sie sich jetzt täglich im Nichtschwimmerbecken der Badeanstalt wiederfindet. Der Bademeister schließt ihr den Korkgürtel zu wie Mutter das Strumpfhalterleibchen, an dem in der kälteren Jahreszeit die beißenden Wollstrümpfe angeknöpft sind. Claras Mutter sitzt auf einer Bank in der Nähe des Beckenrands und passt auf. Sie ist mit dem Strickzeug beschäftigt und hebt ab und zu ihren Kopf, um zu sehen, ob Clara Fortschritte macht. Mutter hat Onkel Hans um Unterstützung gebeten, er und die Brüder schwimmen wie Fische, während sie selbst gern am Beckenrand bleibt. Onkel Hans holt Clara ins Schwimmerbecken - damit sie nicht absäuft, stützt er ihren Bauch mit der Hand. Er hat jedoch wenig Geduld mit dem Kind, würde wohl viel lieber hauchzarte Wäsche auswaschen. Aber die Zeit der Seidendessous ist unwiderruflich vorbei, er hat Straßburg verlassen und wohnt jetzt mit ihnen über der Druckerei.

      Im Winter folgt Paul ihm aus Straubing nach, auch er durfte gehen und stellt ab sofort keine Tabakwaren mehr her. Jetzt blicken drei Brüder im selben Schlafraum durchs Dach auf die selben Sterne. Onkel Paul ist geduldig mit Clara. Manchmal formt er ihr Störche und Hasen aus Stanniolpapier, manchmal ritzt er auch Tulpen und Sonnenblumen in die Innenwand leerer Zigarettenschachteln. Und ist das Kunstwerk vollbracht, hebt er mit dem Federmesser, das sonst keiner hat, Blüten und Blätter so kunstgerecht an, dass sie plastisch erscheinen.

      Doch das Wichtigste ist: Clara kann schwimmen, bevor sie mit knapp sechs Jahren in die Katholische Volksschule hinter dem Kuhm kommt. Zu Fräulein Rösner, die, wie Großmutter auch, ihre Haartracht zum Nackendutt zwirbelt - aber eindeutig weniger Haare hat.

      FÜNF

      Kann es sein, fragt sich Clara, dass im Traum, den sie träumt, die Vergangenheit längst als Bildwert festgelegt ist? Kann es sein, dass ihre Vorstellungskraft sich von Anfang an die Bilder ausmalt, die sie am liebsten wiedersehen möchte?

      Und wenn es so ist, warum sieht sie, wie sie nach einem Autounfall mit einem Riegel Schokolade auf ihrem Bauch aufwacht? Kann es denn wirklich sein, dass das bisschen Naschwerk, das der englische Tommie als Trostpflaster hinterließ, den Reiz der Erinnerung ausgemacht hat? Oder war es die Mutter, die so offensichtlich erleichtert bei ihrem Kind auf der Bettkante saß? Wie ein Pfeil kam Clara zwischen dem Gasthaus Feldmann und dem Friseursalon aus der engen Passage geflogen. Als das rollende Tarnfarbenmonster sich vor ihr aufbaut, ist alles zu spät - der Aufprall hat Clara bewusstlos gemacht.

      Wenn es denn stimmt, dass die Einbildungskraft sich vorwiegend vorgefertigte Bilder aussucht, warum sieht Clara sich dann an einem Geländer aus Eisenstäben turnen - in einer Lagerhalle der Druckerei hat sie mit Horstl in Bergen von Abfallpapier gewühlt.

      Auf dem Klo zieht sie Fetzen starken Papiers aus der Schürze über dem Kleid. Faltet sie, bis sie kantig sind und steckt sie sich in die Scheide, weil das Gefühl beim Baumeln und Kippeln ein unbekanntes, ja aufregendes ist.

      Wo hat Horstl, fragt sich Clara, falls er dabei mitgemacht hat, sich seine Papierecken hingesteckt? Und was an dem Bild ist dermaßen wertvoll, dass sie, im ganz persönlichen Labyrith, ihm eine Nische eingeräumt hat? Und warum vergisst sie, zu Hause davon zu erzählen? Sagt ihr die innere Eingebung, dass Mutter den Kochlöffel nimmt, wie sie es gern tut, wenn sie sich keinen Rat mehr weiß? Wie damals spürt Clara, dass sie nicht schuldig ist. Sie hört sich jammern und weiß: Kein einziges Mal von den vielen hat sie die Kochlöffelschläge auf Rücken und Hintern verdient.

      „Keiner rührt mir das Kind an. Das ist allein Mariechens Sache.“

      Großvater braucht nur die Stimme zu heben und niemand wagt sich zu widersetzen. Den Anlass weiß Clara nicht mehr, auch nicht, welcher der Onkel sie züchtigen wollte. Aber Großvaters warnender Blick in die Runde, sein erhobenes Kinn mit den silbernen Stoppeln - das hat sie im Innersten aufbewahrt, es muss sie beeindruckt haben.

      Mit fünfzehn soll Claras Mutter die Tochter ein letztes Mal schlagen. Das heißt, sie hat ihren Arm schon zu dem Zweck erhoben, als Clara sie rasch bei den Handgelenken packt und nicht ein Jota nachgibt.

      „Hure!“ presst Mutter zwischen den Zähnen hervor, wie eine Furie ist sie im Nachthemd im Wohnzimmer aufgetaucht, nur weil Clara in Neuenhaus mit Klassenkameraden gefeiert hat. Weil es bei Tarner so lustig war und sie im Nebenzimmer zu Schallplatten tanzen durften, hat sie die Zeit vergessen und den einzigen Abendzug verpasst. Hat die drei Kilometer nach Hause verkrampft und im Nieselregen auf einem Moped-Gepäckträger aushalten müssen, was der Dorfpolizist der Mutter gepetzt hat. Doch da ist er ihr wohl zu nahe getreten. Dass er Clara nebst Schulkameraden verwarnt hat, schafft Mutter keine Probleme. Doch als er ihr zu verstehen gibt, dass sie als Witwe besonders achtgeben müsse, damit ihre Tochter nicht auf die schiefe Bahn gerät, hat er sich eindeutig zu weit vorgewagt.

      „Kümmern Sie sich um die eigene Tochter!“ will Mutter ihm kurz und bündig beschieden haben - zu Claras verwundertem Stolz und nicht einmal grundlos, denn ist seine Tochter, was Männer angeht, nicht schon seit Monaten Dorfgespräch?

      Dass eine Hure sich mit Männern abgibt, ist kein allzu großes Geheimnis, das hat Clara aus Andeutungen Erwachsener aufgeschnappt. Doch was stellt die Hure mit diesen Männern an? Clara hat ihren Onkel Hans zwar das eine Mal mit heruntergelassener Hose, aber nur von hinten gesehen. Sie hegt den vagen Verdacht, dass sich vorn eine Sache befindet, so anders geartet als ihre, dass sie unter allen Umständen unter Bettdecken oder Kleidungsstücken verborgen bleiben muss. Hätte sonst, als sie eingeschult war, die Mutter einer Mitschülerin ganz grundlos verlangt, dass beide Mädchen just dann ihre Augen abwenden, als sie

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