Mörderische Schifffahrt. Charlie Meyer
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Читать онлайн книгу Mörderische Schifffahrt - Charlie Meyer страница 6
»Tag Klettenkönig«, sagte Dickie ergeben. »Scheißjob, was?« Er zog sich die bunten Strumpfhosen bis auf die Knie und fummelte am Schlitz seiner Unterhose herum.
»Hallo Blumenthal«, grüßte Nimsch zurück und es klang wie heul doch, du kleiner Scheißer.
Dickie Blume presste die Lippen zusammen und schob die Hüfte vor. Ein gewaltiger Strahl plätscherte in das Porzellanbecken des Urinals, und er fragte sich irritiert, woher all die Flüssigkeit kam, wo er doch seit Stunden nichts mehr getrunken hatte.
»Wie sind Sie denn an den Job hier gekommen, wenn ich mal fragen darf?«, fragte Dickie wie nebenbei, während er die perfekte Rundung seines Strahls bewunderte. Das Siezen diente zur Wahrung der Distanz, einem karrierebewussten Rattenfänger tat es nicht gut, sich mit gemeinen Klettenkönigen zu verbrüdern.
Nimsch zuckte die Achseln und stopfte sein bestes Stück in die Boxershorts zurück. »Geschäftsbeziehungen«, entgegnete er forsch und grinste breit. Seine Stimme klang so rau, wie man es von einem Klettenkönig aus des Waldes düsterer Tiefe erwarten durfte. »Hier und da das passende Wort an passender Stelle, ein paar Investmentfonds und schon laden unsereins die Banker zu ihren Charterfahrten ein.« Er zog die Pumphosen hoch und ordnete seinen klettenbenähten Umhang. »Wer ist denn dein Anlageberater? Herr Pleitegeier?« Damit drehte er sich um und schlenderte zur Tür.
»Sehr witzig«, knurrte der Rattenfänger verschnupft und zeigte dem Rücken des Klettenkönigs den Stinkefinger.
»Ich hoffe nicht, dass der für mich bestimmt ist«, knurrte der Chef der Banker, der sich in genau diesem Moment an Nimsch vorbei ins Klo schob. Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann, dem man es ansah, dass er seine Freizeit mit einem Tennis- oder Golfschläger verbrachte. Wie hieß er noch gleich? Von ... Sowieso? Auch egal. Eins musste ihm der Neid lassen: Der teure Smoking stand ihm ausgesprochen gut.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Dickie zu sagen, und überlegte gerade, ob er noch eine abfällige Bemerkung über seinen Kollegen, den Klettenkönig, anhängen sollte, als ihm der Banker zuvorkam.
»Rivalität unter Märchenfiguren?«
»Höflichkeiten unter alten Bekannten«, entgegnete Dickie Blume steif. »Außerdem ist der Rattenfänger von Hameln eine Sagengestalt von historischem Wert – beinahe schon eine historisch verbürgte Persönlichkeit - während der Klettenkönig ...« Er brach ab, zuckte abwertend die Achseln und konzentrierte sich dann auf seine Strumpfhosen, die auf halbem Oberschenkel festsaßen.
»Verstehe.« Der Banker zog mit schlanken, gebräunten Fingern den Reißverschluss seiner Hose herunter. Er mochte um die vierzig sein. Seine blond gesträhnten, welligen Haare waren aus dem schmalen braunen Gesicht nach hinten gekämmt, und der breite Goldring an seinem Finger ein Vermögen wert.
Mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, dachte Dickie Blume neidisch. Ein Ferrari in der Garage, eine Villa am Stadtrand, und in der Bank lässt er arbeiten und betreut allerhöchstens VIP-Kunden. Zu allem Überfluss war er von Adel, ein Baron oder Graf oder so. Wie auch immer. Jedenfalls fuhr er eines Morgens bei der Tourist-Information vor und ließ sich ihn, Dickie, den Aushilfsrattenfänger, der zufällig gerade anwesend war, vorführen. Vom Chef der Tourist-Information persönlich, dieser arrogante Arsch. Als Erstes war Dickie die leise, kultivierte Stimme aufgefallen, ein Produkt Jahrhunderte währender Stammbaumplanungen, als Zweites der Name unter dem Kontrakt.
Ein von und zu, der sich zwei Minuten Zeit nahm, um Dickies Eignung für den Job zu überprüfen. Gott, wie er solche Arschlöcher hasste. Er verkniff sich die Frage, ob dem Herrn seine Charter denn gefalle, die Antwort glaubte er ohnehin zu kennen. Ein Pfau, der sich für einen Abend unter die Hühner mischte, aber in ihrem Rücken kalt lächelnd ein Rad schlug.
Kalt, dachte der Rattenfänger, genau so ist sein Lächeln hinter der Fassade. Und kalt sind auch seine Augen. Genauer gesagt waren sie grau – stahlgrau. Eines strahlten sie mit Sicherheit nicht aus: Wärme. Oder Herzlichkeit oder irgendetwas anderes, das einen willkommen hieß, wenn man den Kerl ansah.
»Ich geh dann mal wieder«, murmelte er, weil ihm nichts Besseres einfiel, und konnte sich einen letzten Blick auf den aristokratischen Penis nicht verkneifen. Er lächelte. Weder blau noch verziert, sondern rot und schrumpelig wie sein Eigener, und es sprudelte auch kein flüssiges Gold aus ihm, sondern, genau wie bei ihm, stinkender Urin.
»Herr Blumenthal!«
Dickie stoppte. »Blumenthal-Röder.« So viel Zeit musste sein. »Ja?«
»Sie planen aber noch nicht, sich für heute zur Ruhe zu setzen, nicht wahr?«
Wie er sie hasste, diese leise kultivierte Stimme, die Kehle, aus der sie kam, den Körper, zu dem die Kehle gehörte und diese ganze arrogante Aristokratie. »Nein«, erwiderte er forsch, ohne sich umzudrehen. »Ich mache lediglich die von der Gewerkschaft der Sagen- und Märchenfiguren vorgeschriebene Pause. Unser Vorsitzender, der Herr Rübezahl, reagiert ein wenig eigen auf die Nichteinhaltung gewerkschaftlicher Vorschriften.«
Felix von Hohenroth lachte, aber es war kein nettes Lachen. Es hallte dem Rattenfänger noch immer in den Ohren, als er in der Schiebetür dem Kahlkopf in der Admiralsjacke auswich, der seinem Tischnachbarn beim Pinkeln wohl Gesellschaft leisten wollte. Schwul, dachte Dickie voll Abscheu. Beide höchstwahrscheinlich stockschwul. Igitt.
Er zwängte sich hastig an dem Kahlköpfigen vorbei und verzog das Gesicht, als ihre Arme sich streiften. Ganz hinten im Schiff, noch hinter der Eisentreppe zum Oberdeck, gab es eine Glastür, die auf ein kleines Achterdeck führte. Am Glas klebte ein Schild: Zutritt ausschließlich für Personal. Dickie sah sich verstohlen um. Als die Luft rein war, stieß er die Tür schnell auf, schlüpfte hindurch, schloss die Tür hinter sich und trat rasch einen Schritt zur Seite. Raus aus der Lichtschneise, nicht, dass ihn gleich noch die Pummelige in einer verbotenen Zone erwischte. Er stand auf einem halbrunden Minideck, keine zwei Meter lang, auf dem, am Rand der Lichtschneise, ein uralter Grill vor sich hinrostete. Unter dem Grill stand ein grün verschmierter Farbeimer. Auf dem Grillrost lag ein grün verschmiertes Messer mit schwarzem Griff und langer Klinge. An der hinteren Reling, die erst zur Hälfte gestrichen war, hing ein Rettungsboot, nur unwesentlich größer als ein Schuhkarton.
Und die übrigen hundertfünfzehn Banker und Bankerfrauen schwimmen hinterher, dachte Dickie, um Selbstaufmunterung bemüht, während er in der dunklen Ecke zwischen Schiff und Reling nach der dicken Taurolle tastete, von der er wusste, dass sie dort lag. Seufzend ließ er sich nieder. Wie tief war die Weser eigentlich? Zwei Meter? Oder drei? Und was für einen Tiefgang hatte das Schiff? Konnten sie überhaupt sinken? Der kleine Dicke mit der Fahne, der Schiffsführer aus dem Steuerhaus, hatte etwas von sechzig Zentimeter Tiefgang gesagt, wenn er sich richtig erinnerte und von einem platten Kiel, einem Flachgänger, was immer er sich darunter vorzustellen hatte.
Ach was, wen interessierte das eigentlich? Schließlich fuhr er nicht auf der wirklichen Titanic und aller Wahrscheinlichkeit nach kam auch kein Eisberg die Weser heruntergeschwommen. Er kramte eine Schachtel Pall Mall und ein Feuerzeug aus dem grünen Filzbeutel an seinem Gürtel, schnippte gegen die Schachtel und zog mit spitzen Lippen eine Zigarette heraus. Sein einziges Laster, zurzeit jedenfalls und nicht mehr lange. Als erster Klarinettist würde er das Rauchen aufgeben müssen. Schade eigentlich.
An dieser Stelle seiner Überlegungen fiel ihm ein, seine Klarinette auf dem Tresen liegen gelassen zu haben. Einen kleinen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Instrument vor dem Bankerpöbel im Salon in Sicherheit zu bringen. Doch er blieb sitzen. Diese Klarinette war das Ehrfurcht gebietende Instrument des Rattenfängers, und wer