Der Totenflüsterer. Dietmar Kottisch

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Der Totenflüsterer - Dietmar Kottisch

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ihn auf den Fußboden. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Sie wischte den Staub und ein paar Spinnenweben ab und öffnete ihn. Vor ihr lagen die kärglichen Überreste eines vierzehnjährigen Lebens. Es waren Zeugnisse, Briefe, Sarahs Geburtsurkunde, ihr Kinderausweis, Freischwimmerzeugnis, ein paar Fotos von ihnen beiden und von der Schulklasse, und der <Silvia-Roman>, den sie zuletzt gelesen hatte.

      Klaras Hände zitterten, als sie es sah. Es war ein rotes kleines Büchlein. Sie nahm es heraus, setzte sich auf die Couch und schlug es auf. Auf der Innenseite des Deckels stand mit verblasster Tinte in Sarahs Handschrift >Tagebuch von Sarah Schuster<, dann auf der rechten ersten Seite die Jahreszahl 1960. Da war sie dreizehn Jahre alt, dachte Klara. Sie konnte sich erinnern, dass sie sich gerne ins Zimmer zurückgezogen hatte und ins Tagebuch schrieb. Das war ihre kleine intime Welt, da standen mit Sicherheit ihre geheimen Gedanken, die selbst Klara nicht wissen durfte, und sie wollte sie auch heute noch nicht lesen. Sie blätterte weiter, sah die kleine nach links gerichtete Handschrift, suchte nur nach einem Namen, suchte nach Äppli. Die Buchstaben kamen ihr verschwommen vor, und es war schwer, sie zu übersehen und den Inhalt nicht wahrzunehmen. Sie spürte, wie ihre Augen nass wurden, und sie blätterte weiter. Plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihre Schwester könne sie beobachten. Sie hielt für einen Moment inne, dann blätterte sie weiter. Erst sind es Wortfetzen und Daten – dann kam sie nicht umhin, ganze Sätze zu lesen.

      <Mutti will mir ein neues Kleid kaufen, aber Papa sagt, er habe jetzt kein Geld>

      <meine Noten sind nicht besonders gut, in Mathe könnte ich besser sein, aber ich hab keine Lust. Sie drohen mir mit Hausarrest, wenn ich mich nicht bessere. >

      <Klara hat mich verpetzt bei Mutti…>

      Was könnte das wohl gewesen sein, da sie es nicht ausgeschrieben hat, fragte sich Klara.

      <30.Juli 60. Hab gestohlen, hab Mutti 5 Mark aus der Geldbörse gestohlen weil ich Mitleid hatte mit den Justus Kindern, hab ihnen was zu Essen gekauft>

      Oh Gott, dachte Klara, was war das damals für ein Theater, weil Mama fünf Mark fehlten. Ich habe nicht ahnen können, dass es Sarah war, und erst recht nicht, dass sie anderen damit geholfen hatte. Die Justus Kinder waren sehr arm, hatten kaum was zu beißen. Fünf Mark waren damals viel Geld, wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter vielleicht achtzig Mark Wochenlohn hatte. Es hat nicht viel gefehlt, dann hätten wir gewaltigen Ärger bekommen. Aber letztendlich glaubte Mutter, sie habe das Geld selbst verloren.

      Unter dem 1.August hatte Sarah plötzlich ein flammendes Herz gemalt.

      < 3.August. Die Ferien sind zu Ende. Unser Urlaub in Ostermundingen war herrlich!> Wieder ein flammendes Herz, und Klaras Herz begann zu rasen. Sie blätterte die Seite um.

      > Ein neuer Junge in der Parallel-Klasse, Albert. Er schwärmt von meinem Schwesterherz. Er ist ein bisschen eigenartig.<

      Klara entsann sich. Albert war zwei Jahre älter als Klara, weil er sitzen geblieben war, außerdem stotterte er und war außergewöhnlich nervös.

      > 8. August. Wie schön….. Ich denke immerzu an Äppli.<

      Ihr stockte der Atem.

      „Ich denke immerzu an Äppli“

      > 1.September. Die Eltern machen einen Aufstand, weil wir bis 10 Uhr wegwollten. Um 8 müssen wir daheim sein<

      <4.September 1960, Äppli hat geschrieben, ich hab den Brief zehnmal gelesen und ihn unter mein Kopfkissen gelegt, Äppli ist soooo süß>.

      Sie legte das Tagebuch zur Seite. Wir brauchen diesen Äppli gar nicht zu suchen, dachte sie, wir haben den Beweis in Sarahs Tagebuch. Nach ein paar Minuten stand sie auf und ging mit dem Tagebuch in Pauls Arbeitszimmer.

      Er hatte seine Kopfhörer wieder aufgesetzt und lauschte und schrieb. Sie berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Paul drehte sich um und nahm die Kopfhörer herunter.

      Klara legte den Beweis aufgeschlagen vor ihn hin. „Lies!“

      Paul sah den Satz und nickte. „Voller Erfolg. Wir brauchen nur noch den Brief.“

      Sie setzte sich auf den Stuhl. „Und wenn sie ihn zerrissen hat? Aus Angst vor den Eltern? Unser Vater war streng.“

      „Ich glaube nicht mal, dass sie ihn zerrissen hat, Schatz. Vielleicht gut versteckt. Wir sollten ihn finden. Das Tagebuch an sich ist schon zweifellos ein gutes Indiz, aber der Brief wäre in diesem Zusammenhang der hundertprozentige Beweis.“

      Klara musste ihm zustimmen. Sie musste in dem Koffer weitersuchen.

      Während sie ins Wohnzimmer zurückging, bekam sie plötzlich wieder Schuldgefühle. Sie hatte sie jahrelang unterdrücken können, aber in dem Moment tauchten sie wie Kobolde aus der Schublade auf, jener Schublade, die Paul mit den Stimmen einen Spalt geöffnet hatte. Sie setzte sich auf die Couch. Schuldgefühle, weil sie, Klara, lebte und Sarah tot war? Schuldgefühle, weil die letzte Erinnerung ein hässlicher Streit war, bevor Sarah starb?

      Und wieder kehren die Bilder von damals in ihr Gedächtnis zurück. Der Vater war mit Sarah und zwei Freundinnen (Anna und Ilona) am 17. August 1961 zu den Kahler Seen gefahren. Sarah musste beim Schwimmen einen Herzstillstand bekommen haben, wie die Ärzte später feststellten. Ihre Freundin Anna sah nur, wie sie plötzlich nicht mehr an der Stelle im Wasser war, an der sie noch eben gewunken hatte, etwa 20 Meter vom Ufer entfernt. Erst hatte Anna geglaubt, sie tauche, aber nach etwa 5 Minuten war sie immer noch nicht sichtbar. Der Vater kam gerade mit ein paar Bechern Limonade zurück, und Anna sagte es ihm. Die restlichen Ereignisse, wie man Sarah barg, wie sie und die Mutter davon erfuhren, verschwanden so tief in ihr Unterbewusstsein, dass sie keine Erinnerung mehr hatte.

      Sie brühte sich einen neuen Tee auf, und während der fünf Minuten Ziehdauer stand sie in der Küche, ihre Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr.

      Und es sollte noch eine Überraschung geben!

      Mit der Teetasse ging sie wieder ins Wohnzimmer. Links vom Flur hörte sie Paul. Sie blätterte in dem Tagebuch weiter nach hinten, in der Zeit zurück. Dann sah sie den Eintrag: >6.September 1960. „Ekelhafter E.“.< Klaras Stirn bekam Falten, als sie das Datum las. Vaters Geburtstag. Es war die Feier zum 46. Geburtstag ihres Vaters Hannes. Sie erinnerte sich. Viele Gäste kamen an diesem Tag, Hannes Geschwister, Mutters Geschwister und deren Kinder. Was bedeutete der Ausdruck <Ekelhafter E.>? Sie fuhr ihre unsichtbaren Antennen aus. Da war etwas an diesem Abend. Sie dachte krampfhaft nach. Und dann kam die Erinnerung. E war die Abkürzung von Eckhard, Hannes` Bruder. Eckhard war Richter am Landgericht Frankfurt/Main. Ab irgendeinem Zeitpunkt veränderte sich damals die Situation. Sarah war anders, ihr Verhalten hatte sich geändert, sie war missmutig, gereizt, unausstehlich, aggressiv. Dann war sie plötzlich verschwunden. Die Gäste bemerkten es kaum, zumal es auf den Abend zuging und einige viel Alkohol getrunken hatten. Nur Vater und Mutter suchten verstohlen das ganze Haus ab. Dann fanden sie sie. Sarah kniete vor der Kloschüssel, war total betrunken, hatte gekotzt. Was war passiert? Hatte der Eintrag etwas damit zu tun? Dann fiel es Klara wie Schuppen von den Augen, und es lief ihr kalt den Rücken herunter. Eckhard hatte es auch bei ihr versucht! Und bestimmt an diesem Abend auch bei Sarah! Jetzt musste sie jenen anderen Abend in ihr Gedächtnis zurückholen, den sie am liebsten vergessen wollte. Es war etwa ein Jahr zuvor, Klara war 11 Jahre alt, als der Bruder ihres Vaters ihr an die Brüste und unter den Rock gegriffen hatte. Sie hatte sich so sehr gewehrt, dass er davon abließ. Nur seine hinterhältige Drohung, er werde es abstreiten und behaupten, sie habe ihn verführt und er würde es der ganzen Familie erzählen, hielt sie davon ab, es ihren Eltern zu berichten.

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