Sonnenwarm und Regensanft - Band 1. Agnes M. Holdborg
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»Ja, Tschö«, verabschiedete sie sich aufs Neue und wandte sich zum Gehen. Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, war er bereits fort.
Viktor und Viktoria
Viktor schaute Anna aus einiger Entfernung grübelnd hinterher und fragte sich, ob er ihr hätte erzählen sollen, was er gedacht und empfunden hatte, als er sie zum allerersten Mal in diesem Wald gesehen hatte. Wie bezaubernd und anziehend er sie fand mit ihren wunderschönen blauen Augen, die ihn an ganz besonders seltene hellstrahlende Saphire erinnerten. Wie er seitdem davon träumte, mit seinen Händen über ihr goldblondes seidiges Haar zu streichen.
Der Gedanke daran, dass er endlich so dicht neben ihr gesessen hatte und wie es ihn dabei in den Fingern gejuckt hatte, ihre zarte Porzellanhaut, den hübschen Mund und die süße kleine Nase zu berühren – und noch viel mehr – gerade dieser Gedanke riet ihm, ihr nichts zu sagen und sich vorerst zurückzuhalten.
Auf keinen Fall dürfte er sie verschrecken, überlegte er. Anna war jemand, dem man mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen begegnen sollte. Das hatte er deutlich wahrgenommen. Also müsste er sie erst einmal näher kennenlernen, mehr von ihr erfahren. Erst dann würde er entscheiden, wie viel er von sich preisgeben wollte.
Vollkommen in seine Grübeleien vertieft, sah er immer noch in die Richtung, in die sie verschwunden war, bis auf einmal mit hellem Licht seine Zwillingsschwester neben ihm erschien.
»Viktor, was hast du dir nur dabei gedacht? Das hättest du nicht tun sollen.« Sie sprach mit milder Stimme und wirkte keineswegs ärgerlich, sondern eher besorgt.
Nach wie vor fixierte er den Punkt, an dem er Anna zuletzt gesehen hatte. Er konnte den Blick einfach nicht abwenden. »Ja, stimmt schon, eigentlich hätte ich sie nicht ansprechen dürfen. Aber sie war so traurig, Viktoria. Sie hat mein Herz bewegt.«
»Das kann ich ja durchaus verstehen. Die Frage ist nur: Was willst du jetzt tun?«
Schweren Herzens wandte er sich ab und blickte seiner Schwester in die Augen, die seinen so sehr glichen. Nachdenklich musterte er sie. Sie sah ihm überhaupt sehr ähnlich, besaß das gleiche schmale Gesicht mit den Grübchen. Nur war Viktoria weicher, anmutiger – halt eine Frau. Ihr Haar schimmerte in einem etwas dunkleren Braun als seines, ohne mahagonifarbene Strähnchen, und es reichte ihr bis zu den Hüften. Auch sie war groß und schlank.
»Was ich tun will? Tja, wenn ich das nur wüsste. Eines aber weiß ich mit Bestimmtheit: Ich will Anna auf jeden Fall wiedersehen.«
»Auch das kann ich verstehen. Aber du musst vorsichtig sein. Denk an Vater. Er darf nichts davon erfahren. Wir stehen nicht mehr unter seinem Schutz, das ist dir doch hoffentlich klar. Und er ist so verbittert, Viktor. Wir haben keine Ahnung, wie er reagieren würde. Also, pass gut auf.«
Viktor schnaubte verächtlich. »Ehrlich gesagt, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher, ob wir jemals unter seinem Schutz gestanden haben. Außerdem ist er schon seit langer Zeit am Meer und wir sind hier. Wie soll er denn da etwas von uns mitkriegen? Nein, er spürt uns nicht, Viktoria, hat er womöglich nie. Er wird also nichts erfahren.« Er räusperte sich. »Es sei denn, du …«, fügte er leise hinzu und wusste gleich, dass er das nicht hätte sagen, ja, nicht einmal denken sollen.
Oh ja, sie wurde sauer. Viktorias dunkelblauen Augen blitzten ihn böse an, wobei sich jetzt bei ihr die gleiche kleine Stirnfalte zeigte wie bei ihm, wenn er nachdachte oder halt verärgert war. Zur selben Zeit ließ ein jäh aufkommender Windstoß die Blätter der Bäume geheimnisvoll rascheln und rauschen. Dann wurde es genauso überraschend wieder still.
Viktoria dafür allerdings nicht. »Viktor, du enttäuscht mich. Glaubst du ernsthaft, ich könnte das? Ich könnte Vater kontaktieren und dich an ihn verraten? Was denkst du dir eigentlich, he? Du bist mein Bruder! Wir gehören doch zusammen!«
»Schon gut, entschuldige bitte«, lenkte Viktor hastig ein. »Das war mehr als dumm von mir. Natürlich vertraue ich dir. Immer. Aber, ich bin so … Ach, ich weiß auch nicht. Ich kann und ich will nichts ungeschehen machen. Es war viel zu schön, mit Anna zu reden. Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich braucht. Wie gesagt, sie ist so traurig und sie fühlt sich so schlecht.« Viktor überlegte kurz. »Nein, das trifft es nicht. Sie fühlt sich eher klein und nichtig. Das tut mir richtig weh. Ich will das nicht. Ich will ihr lieber zeigen, was sie alles kann und was sie ist.«
»Was sie ist?«, forschte Viktoria nach. »Was meinst du denn damit? Meinst du, sie ist mehr als nur ein einfacher Mensch? Wie kommst du darauf? Ich habe jedenfalls nichts dergleichen wahrgenommen. Okay, ich habe sie erst heute gesehen, noch dazu nur aus der Ferne, aber sie schien mir ganz normal zu sein.«
»Richtig, Schwesterlein, du hast sie lediglich aus der Ferne betrachtet und ihr nicht monatelang beim Träumen zugeschaut oder dich mit ihr unterhalten, so wie ich. Aber ich, ich hab es gespürt. Da ist etwas, tief in ihr drin. Etwas Kraftvolles und Gutes. Glaub mir, es ist da. Und ich werde es finden und ihr zeigen.«
»Ja, das wirst du wohl«, seufzte sie, während sie die Hand nach ihm ausstreckte. »Ich hab uns was Feines gekocht. Lass uns beim Essen weiterreden, ja? Du räumst danach die Küche auf.«
Sie zog ihn hinter sich her. Doch Viktor sah sich nach einigen Metern noch einmal um, obwohl ihm natürlich klar war, dass es nichts mehr zu sehen gab. Sie hatten Annas Welt bereits verlassen.
Halbe Sachen
Zum Glück war es vom Wald nicht weit bis nach Hause. Dort angekommen meldete sich gleich Annas Vater und ließ ihr damit keine Zeit, über die seltsam aufregende Begegnung weiter nachzudenken. Er roch nach Sägemehl und war schlecht gelaunt, wie eigentlich immer in den letzten Wochen.
»Wo warst du? Was hat du so lange gemacht?«, fragte er mürrisch.
»Nichts Besonderes«, erwiderte sie spontan.
»Ja, war klar«, gab Johannes resigniert von sich. Diese Antwort kannte er von ihr zur Genüge, was Anna zwar wusste, aber nicht daran hinderte, sie immer mal wieder zu benutzen. »Deine Mutter hat sich übrigens schon hingelegt. Sie war ziemlich erschöpft und fühlte sich wieder schlecht.«
»Oh, das tut mir leid. Heute Mittag ging es ihr doch noch einigermaßen gut.«
»Ja«, meinte er nur matt. »Könntest du mir wohl was zu essen machen? Ich bin hundekaputt.«
Johannes war äußerst genügsam, was sein Abendessen und überhaupt seinen Feierabend betraf. Er machte sich dann meist selbst einen Toast mit Käse, einen mit Tomaten und eine Scheibe Rosinenstuten mit Honig zurecht, dazu ein Glas Milch und eine Tasse Pfefferminztee. Danach ging er unter die Dusche und krönte den Abend mit einem Feierabendbierchen, einer Plauderei mit Theresa und den Kindern und zuletzt dem Fernsehprogramm, manchmal auch mit guten Freunden. Damit war er meist zufrieden, fast jeden Tag.
Heute aber machte Annas Vater einen wirklich abgespannten und niedergeschlagenen Eindruck, weshalb sie kurzerhand beschloss, ihn einmal zu verwöhnen. Sie wusste ja um seine Sorgen, auch wenn er sie nicht aussprach.
»Klar, Papa. Essen wie immer?«
»Mmh.« Johannes nickte zustimmend.
Also bereitete sie ihm das Abendbrot