Nest im Kopf. Beate Morgenstern
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Eine Woche lang würde sich Anna in derselben Tischgesellschaft befinden, die sie ohne sichtbare Neugier aufnahm, und auch ihr späteres Verschwinden würde sie kaum registrieren.
Anna hatte die Villen nach dem Schwesternhof nie beachtet, die letzten auf der kurzen Straße, ehe die Allee zum Dörfchen Herthelsdorf begann. Aufmerksam wurde sie erst, als die Mutter sie eines Tages erwähnte. Die Missionshäuser, sagte sie und erklärte, dass Missionare sie erbaut hatten, um in Gottshut ihren Lebensabend beschließen zu können. Eine der Villen allerdings hatte immer Annas Interesse erregt. Die der Belgern-Sternebecks. Auch bei ihrem Nachmittagsspaziergang in das unterhalb des Schwesternhofes gelegene Tal blieb sie vor dem kastenförmigen Bau stehen. Die Fassade war recht prachtvoll mit ihren mehrfarbigen Ziegeln, einer Ornamentkante über den Bogenfenstern, Absätzen, Säulchen, dem geschwungenen Gitterwerk am Balkon. Als Kind hatte Anna die Villa nicht leiden mögen, weil sie so anders war als die Gottshuter Häuser sonst. Ihre Bewohner hatten es Anna angetan. Judith von Belgern-Sternebeck, die in Annas Klasse ging und so eine schöne Schrift hatte. Bei dem Ferienaufenthalt in Gottshut hatten die von Belgerns Annas Familie eingeladen, und so lernte Anna auch Judiths jüngere Schwester Susanna kennen. Während Annas Schwestern in dem von Belgernschen Garten mit Judith und Susanna spielten, hatte Anna das Schwesternpaar beobachtet. Sie wunderte sich, wie groß und schwer sie waren, wie langsam sie sich bewegten, zusätzlich behindert durch eine altmodische und zu warme Kleidung und die Last der zu Kronen aufgesteckten, sehr dicken, dunkelblonden Zöpfe. Bleich waren sie, dickhäutig und der Blick ihrer beinahe ausdruckslosen wasserfarbenen schrägstehenden Augen fesselte Anna. Sie, die mit ihrer Familie abgeschlossen innerhalb eines Dorfes auf einem großen Pfarrgrundstück lebte, hatte schnell die Ähnlichkeit ihrer Situation mit der des Schwesternpaares erkannt. Auch diese Mädchen verbrachten die meiste Zeit im Garten, einem urwaldmäßigen, paradiesischen Gefängnis, das mit seinem Strauchwerk undurchdringliche Tiefen bot. Seine Tannen und die Blutbuche gaben dem Garten eine große Höhe. In ihm verbarg sich das Schwesternpaar vor den spöttischen Augen der Gottshuter. Denn selbst für Gottshut war die Weltfremdheit der Mädchen außergewöhnlich. Eine alte Hausdame, die die von Belgerns bei ihrer Flucht aus dem Baltikum mitgebracht hatten, führte das Regiment. Tante Leonie nannte sie nie anders als den Zerberus. Anna hatte den Zerberus kennengelernt und war gut mit ihm ausgekommen bei späteren Besuchen. Doch was wusste sie schon von stiller Tyrannei. Ohnehin waren die von Belgerns von sehr sanfter Natur und verführten dazu, über sie zu regieren. Doch hatten sie trotz ihrer Arglosigkeit Würde. Es war nicht von Belang, dass Bruder von Belgern, statt wie seine Vorfahren eigene Ländereien zu verwalten, eine untergeordnete Arbeit im Davidshof verrichtete, dass die Familie nur noch als Mieter in dem Haus wohnte, das einmal 'ihr Besitz war, dass sie nun auch den Garten abgegeben hatten.
Anna hatte die Eltern von Belgern nie anders als heiter gesehen. Er: selbstvergessen, als sei er ständig mit erfreulichen Gedanken beschäftigt, und die Anstrengung, die hinter dieser Gelassenheit steckte, ahnte wohl niemand. Sie: lebhaft wie viele Gottshuterinnen. Beide von zierlicher Statur, sodass das elefantenhafte Wachstum der Töchter um so mehr erstaunte. Sie waren aus einer alten Familie. Doch als sie Anna einmal ihren Stammbaum zeigten, da schien ihr, sie taten es nur, um auf den Schnittpunkt hinzuweisen, wo sich seine und ihre Linie trafen. Ihre Verwandtschaft sollte, so verstand Anna, den Beweis für ihr tiefes Füreinander-bestimmt-sein liefern.
Auf sie trifft das Wort Demut zu, dachte Anna. Demut? Wie mir die alten Begriffe noch geläufig sind. Es tut nichts, dass ich nicht an Gott glaube, ich lebe noch mit Begriffen, Werten aus der Welt, aus der ich gekommen bin. Meine ewige Inkonsequenz. Ich kann keine Brücken abbrechen. Wenn sie hinter mir von selbst morsch werden, zusammenfallen, ist es was anderes.
Sie sind bescheiden, korrigierte sich Anna. Hintergrundpersonen. Sie machen nichts von sich her, obwohl sie es könnten. Sie sind durch Natur und Erziehung als Gottshuter begabt, wie die Gründer sie einmal wollten: jeder des anderen Bruder, des anderen Schwester, jeder versieht Dienst in der Gemeinschaft nach seinen Gaben, seinen Fähigkeiten entsprechend. Sie wären imstande, mit aller Hingabe Arbeiter im Weinberg des Herrn zu sein, sogar dem Rigorismus der Bruder- und Schwesternschaft gewachsen, der jemanden wie mich abschreckt.
Anna glaubte, dass Bruder von Belgern aus dem Haus käme. Der Blick seiner hellen Augen wie durch einen Schleier. Er war so leicht, dass Anna ihn kaum spürte. Unnatürlich schmal, auf ein ebenmäßiges Profil zugearbeitet das Gesicht. Die Haltung kontrolliert wie die eines Militärs. Es schien, er sei in all den Jahren um keinen Tag älter geworden. Seine Familie hatte ihn vielleicht anders im Gedächtnis. Es gab ihn nicht mehr, den stillen Baron.
Anna ging durch eine Gasse am Grundstück entlang hinab ins Tal.
3
In der Nacht stand Anna in einem großen, sehr dunklen Zimmer. Schwere Vorhänge hingen seitlich zusammengebunden über den Fenstern. Draußen war es finsterer noch als drinnen. Nur vom Kopfende eines riesigen, auf einem hölzernen Podest befindlichen Himmelbetts kam schwaches Licht. Anna ahnte, sie war im Sterbezimmer der alten Dame Buddenbrook. Aber in dem Bett würde wohl Tante Leonie liegen. Langsam ging sie auf das Podest zu. Der Lichtschein wurde stärker. Schon sah Anna das zerwühlte Lager.
Nein, nicht du! schrie Anna. Du nicht.
O doch, mein Kind, sagte die Mutter ruhig. Wusstest du es nicht? Ich habe diese Krankheit.
Tante Leonie hat diese Krankheit, schrie Anna und krallte sich an der Bettdecke fest.
Die Mutter rührte sich nicht. Ihr Gesicht war abwesend. Ihr schien es nichts zu bedeuten, nicht mit Anna geredet zu haben, nicht das Wichtige erfahren zu haben, das Anna ihr sagen musste. Im Glauben an die Unsterblichkeit der Mutter hatte Anna es versäumt, der Mutter das Wichtige zu sagen. Nun würde die Mutter ohne dieses Wissen von ihr gehen. Für sie hatte dieses Geständnis ohnehin keinen Wert mehr. Doch ungesagt würde es auf Anna zurückfallen und eine Last sein, die mit den Jahren so schwer würde, dass sie daran zugrunde ginge.
Anna wälzte sich in ihrem Bett und wachte auf. Es ist noch nicht zu spät, wiederholte sie mehrere Male und zwang sich, nicht aufzustehen und die Mutter in ihrem Schlaf zu stören. Sie könnte am Morgen mit der Mutter reden. Gewiss würde sie das tun.
Ich habe schon an deiner Tür gehorcht, sagte die Mutter.
Anna strich sich über die Stirn. Bin wohl noch mal eingeschlafen.
Du siehst schon viel frischer aus. Die Mutter nickte befriedigt.
Die viele Luft, sagte Anna. Nun hast du wohl schon gefrühstückt?
Nur ein Schnittchen. So spät ist es ja nun auch wieder nicht. Übrigens hab ich ihn heute Morgen gefunden. Mit klarem Verstand geht's eben doch besser.
Den Lebenslauf? Siehst du, ich wusste, er muss da sein.
Ich wusste es ja auch.
Und wo ist er?
Hier. Griffbereit! Die Mutter nahm ein großes Heft aus dem Regal und hielt es, den kleinen Sieg über ihre Unordnung auskostend, triumphierend vor das Gesicht.
Anna schaute kurz in das Heft. Die Großmutter hatte den Lebenslauf noch in gotischer Schrift abgefasst. Ach schade, sagte sie. Kann ich nicht gut lesen.
Es gibt noch Schreibmaschinendurchschläge. Aber wo unsrer abgeblieben ist ...
Eigentlich könntest du mir vorlesen. Dann haben wir beide was davon.