Nest im Kopf. Beate Morgenstern
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Nest im Kopf - Beate Morgenstern страница 26
Am Abend natürlich. Früher hast du uns auch vorgelesen, fällt mir ein.
Hattest du das vergessen? Ich hab euch viel vorgelesen.
Besser war Großmutter, dachte Anna. Deshalb hab ich's vergessen. Und Mutter hat uns nur die in vielen Pfarrhäusern gängige Unterhaltungsliteratur vorgelesen. Damit gab sich Großmutter nicht ab. Vorlesen konnte Großmutter. Das war ihre Leidenschaft. Sie hat uns Kindern vorgelesen, ihren Enkeln drüben, später anderen Kindern. Damit konnte sie sich nützlich machen, was sie so brauchte. Wie dramatisch sie die Auftritte von Personen der dörflichen Welt Fritz Reuters gestaltete. Weder sie noch wir waren des Plattdeutschen mächtig. Aber das machte überhaupt nichts. Wenn sie von Onkel Bräsig sprach, krächzte sie wie eine Krähe. Was für eine Krankheit die Podagra war, die Onkel Bräsig quälte, wir verlangten keine Aufklärung. Es genügte uns zu wissen, wie stark ihn die Schmerzen plagten. Großmutter las uns Dickens vor und selbstverständlich Onkel Toms Hütte.
Noch vom Schlaf benommen, versuchte sich Anna zu erinnern, wie die Stimme der Großmutter beim Vorlesen geklungen hatte. Anders als sonst: metallen, näselnd oder etwas schnarrend und tief wie ein sehr altes Volksinstrument.
Mutter hat eine helle Stimme, dachte Anna. Ich glaube, sie war recht stolz auf ihren Sopran.
Während des Frühstücks im Garten schwand Annas Benommenheit, und sie überlegte, weshalb sie in der Nacht eine so panische Angst gehabt hatte, die Mutter könne sterben. Worin das Wichtige bestand, das sie der Mutter zu sagen hatte, war ihr schon klar: sie mochte die Mutter, sie hing an ihr, hatte sich immer nach ihrer Zuneigung gesehnt und als Kind darunter gelitten, dass sie anders war, als die Mutter es wollte, ihre täglichen Beschuldigungen, Anna denke nur an sich, zu ernst genommen, sich von ihr zurückgesetzt, ja ungeliebt gefühlt. Dass der Vater Anna bevorzugte, hatte sie nicht trösten können. Sie hatte Groll gegen die Mutter empfunden, auch als Erwachsene. Doch da war dieser Groll eigentlich schon unwesentlich geworden. Denn als sich Anna im Alter von nicht ganz vierzehn Jahren tatsächlich tief in Schuld glaubte, war es die Mutter gewesen, die sie annahm, während der Vater Anna von sich stieß. Da hatte die Mutter für alle Zeit bestanden. Ein Wort, eine Geste der Mutter, und Anna war ihr nach einer Kränkung wieder gut. Vielleicht sind die weniger geliebten Kinder die dankbareren, dachte Anna. Sie haben immer einen Mangel wettzumachen.
Wenn mal was sein sollte, begann Anna ihre Ansprache an die Mutter. Ich meine, könnte ja mal was sein. Ganz plötzlich. Man weiß ja nie. Also, ich wüsste schon gern Bescheid. Nicht, dass ihr denkt, ich hätte so viel zu tun, und ihr wollt mich nicht belästigen … An mir soll's nicht liegen. Ich komme auch mal schnell runter.
Was soll denn bloß sein? Ich versteh dich nicht.
Eine ... Krankheit. Anna musste sich geradezu zwingen, dieses Wort auszusprechen und redete dann schnell weiter. Einer könnte ja mal krank werden. Und dann schreibt ihr mir nicht, weil ihr's vergesst und die anderen in der Nähe sind oder weil ihr denkt, es ist nichts. Und dann kann ja doch mal was sein.
Natürlich benachrichtigen wir dich, sagte die Mutter zerstreut. Hör mal, wie schön der Vogel singt. Sie deutete ins Geäst.
Eine Amsel. Haben wir auch in der Stadt viel. Anna war unzufrieden mit sich, weil sie nicht gesagt hatte, was sie sagen wollte.
Wie schön die Amsel singt, wiederholte die Mutter andächtig. Hast du schon mal eine Nachtigall gehört?
Eine Nachtigall? Ja. Sogar mitten in der Stadt. Ich habe mal in der Nacht auf eine S-Bahn gewartet. Da hörte ich Nachtigallen oder Sprosser.
Was ist der Unterschied? erkundigte sich die Mutter.
Im Lied der Sprosser soll was fehlen. Man sagt, die Sprosser sind die Nachtigallen des Nordens.
Dann sind es womöglich Sprosser gewesen, die wir in der Eilenriede gehört haben. Die Mutter war enttäuscht.
Eilenriede. Dieses Wort hatte für Anna und ihre Geschwister einen besonderen Klang bekommen. Von dem hannoverschen Stadtpark hatte die Mutter oft erzählt. Die Spaziergänge mit ihrem Vater durch die Eilenriede gehörten zu den Lieblingserinnerungen der Mutter, und indem sich Anna in ihrer Vorstellung einen eigenen Stadtpark geschaffen hatte, glaubte sie, die Erinnerung der Mutter zu teilen.
Gemeinsam mit den Gottshutern hatte Anna die Vorliebe für den Gottesacker. Die Gottshuter gingen in jeder Stimmung hinauf, in feierlicher nach dem Gottesdienst, in der heiter gehobenen eines Sonntagnachmittags, wenn sie jung und verliebt waren, oder sie bogen in einfacher Spaziergehlaune von der Wiese oder vom Feld ab und schlüpften durch die Hecken.
Anna hatte sich aus der Kindheit den Sinn für das Feierliche erhalten, machte gern aus gewöhnlichen Abläufen Zeremonien. So gestaltete sie auch ihre erste Begegnung mit dem Gottesacker, indem sie langsam die Allee hinaufging, die sie den Prozessionsweg nannte. Früher, so hatte der Vater Anna erklärt, säumten Buchenhecken den Weg vom Kirchsaal bis hinauf zum Gottesacker. Die Hecken fingen die Blicke der Gläubigen ein und lenkten sie zurück auf sich selbst, wenn sie nach einer Versammlung im Gotteshaus ihre ins obere Reich berufenen Geschwister in weißen Särgen der Freude hinauf zum Hutberg geleiteten. Die Buche als Baum des Lebens sollte sinnfällig die untere mit der oberen Gemeinde verbinden. Doch auch jetzt war die Verbindung noch eng genug, selbst wenn die Blicke durch die Lindenallee hindurch in die Landschaft schweiften.
Am Ende der Allee leuchtete Anna auf einem Torbogen in goldener Schrift auf schwarzem Grund der alte Ostergruß entgegen:
CHRISTUS IST AUFERSTANDEN VON DEN TOTEN.
Sogleich fielen Anna die Worte ein, mit denen der Prediger die im Morgengrauen versammelte schweigende Ostergemeinde begrüßte: Der Herr ist auferstanden.
Als eine befreiende Botschaft wurde von der Gemeinde die alte und doch alljährlich neue Nachricht aufgenommen. Erlöst von den langen Wochen Leiden der Passionszeit und der seit Karfreitag eingetretenen Stille, antwortete sie: Er ist wahrhaftig auferstanden. Den ganzen Tag galt dieses Grußwort in den Familien der Gemeinde, die Nachricht, die der eine sagte, der andere bestätigte, sodass es schließlich jedem zur Gewissheit werden musste: Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Er ist vom Tod zum Leben hindurchgedrungen. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? sagte Anna leise vor sich hin und erinnerte sich, wie sie als Kind an der Hand des Vaters am Ostermorgen hinaufgegangen war zum Gottesacker, im Zug der Gemeinde. Denn den Aufgang der Sonne feierte der Bruderbund an diesem Tag auf dem Gottesacker. Dies ist der Tag, den der Herr macht. Der Jubel der Bläser überzeugte die Gläubigen vollends von dem Sieg, an dem sie teilhatten. Um diesen Sieg zu verkünden, wurden die Bläser nicht müde. Sie zogen nach der Osterliturgie vom Gottesacker hinunter in den Ort und weckten die noch Schlafenden mit ihren Chorälen.
Anna ging durch den Torbogen hindurch. Mit seinen Lindenalleen und Rasenfeldern, in die Reihen gleich großer flacher Sandsteinplatten eingelassen waren, glich der Gottesacker einem Park, durch den man in fröhlicher Ruhe hindurchwandern konnte. Nichts erregte besondere Aufmerksamkeit. Man brauchte auch nicht die Wege einzuhalten, sondern konnte über die Rasenfelder laufen auf der Suche nach einem bestimmten Grab oder aus Neugier. Dann las man immer die gleichen Vor- und Nachnamen. Selbst die über die fünf Erdteile verstreuten Geburtsorte kehrten häufig wieder, sodass sie ihre Besonderheit verloren. Bald wurde auch einem Fremden die Ordnung innerhalb des Gottesackers klar. Ehe- und Familienbande waren wieder aufgehoben. Nur noch eine Liebe zählte, die zu Gott. In der Reihenfolge, in der der HERR die SEINEN zu sich berufen hatte, lagen